Neue Biografien

Weibliche Lebensentwürfe

18. Mai 2015
von Börsenblatt
Ob als Sängerin, Fotografin, Hotelchefin, Bildhauerin: Neun neue Biografien stellen außergewöhnliche Frauen vor, die gegen die starren Rollenbilder ihrer Zeit Sturm liefen.

Sie war eine Ausnahmeerscheinung: Als Tochter eines Buchdruckers und Verlegers erklomm Celeste Coltellini die Karriereleiter einer gefeierten Primadonna an den Opernhäusern in Neapel, Wien, Florenz, Mailand und Venedig − insbesondere ihre schauspielerische Ausdrucksfähigkeit wurde allenthalben gerühmt. Carola Bebermeier zeichnet in "Celeste Coltellini. Sängerin und Malerin" (Böhlau, 328 S., 44,90 Euro) anhand zahlreicher Dokumente und Skizzen­bücher ein eindrucksvolles Künstler­leben am Ende des 18. Jahrhunderts nach, beschreibt die Salons und die Oper als sozioökonomischen Raum durch entsprechende Zeitzeugen­berichte so anschaulich, dass der Leser unversehens auf Zeitreise geht.

Ein außergewöhnlich selbstbestimmtes Leben führte ein Jahrhundert später auch die schwedische Schriftstellerin Selma Lagerlöf, die 1909 als erste Frau mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Die värmländische Gutsbesitzerstochter brach 1881 gegen den Willen ihres Vaters nach Stockholm auf, um Lehrerin zu werden. Holger Wolandt erzählt ihre Lebens­geschichte in "Selma Lagerlöf – Värmland und die Welt" (Urachhaus, 320 S., 22,90 Euro). Er begegnet ihr in privaten Briefen, die bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden sind, lässt die Dichterin selbst zu Wort kommen und wirft so einen neuen Blick auf den "Menschen hinter dem Nationalmonument".

Begabte Künstlerinnen 

So begütert wie Lagerlöf war die wenige Jahre jüngere Käthe Kollwitz nicht. Die Künstlerin, als fünftes Kind eines Maurermeisters geboren, hat mit Zeichenkohle und Modelliermasse die Brüche und das Leid der Menschen unnachahmlich festgehalten – unvergessen ist bis heute ihr Plakat "Nie wieder Krieg!" oder das Denkmal der Mutter mit totem Sohn. Sonya und Yuri Winterberg haben für "Kollwitz. Die Biografie" (C. Bertelsmann, 432 S., 24,99 Euro) in vielen Recherchen und Gesprächen mit Kollwitz’ Enkeln das Leben der ersten Frau in der Preußischen Akademie der Künste rekonstruiert: Sichtbar wird eine höchst eigensinnige, auch trotzige Frau, die leidenschaftlich Männer wie Frauen begehrte, die aber auch ein bürgerliches Leben als treusorgende Ehefrau mit Dienstmädchen führte.

1904 studierte Kollwitz in Paris in der Académie Julian Plastik und besuchte Rodins Atelier; an beiden Orten wäre sie drei Jahre zuvor auf Clara Westhoff getroffen – eine begabte Künstlerin, die zeitlebens im Schatten ihres Ehemanns Rainer Maria Rilke stand, obwohl sie nur sporadisch zusammenlebten. Marina Bohlmann-Modersohn, die schon einige luzide Werke zu Paula Modersohn-Becker und Westhoff veröffentlicht hat, legt mit "Clara Rilke-Westhoff" (btb, Juni, 384 S., 21,99 Euro) eine ungemein kenntnisreiche und hoch spannende ­Biografie vor. Äußerst differenziert beschreibt sie den Freiheitsdrang der 17-jährigen Bremer Kaufmannstochter, die unbedingt Bildhauerin werden will, und das Spannungsverhältnis zu den Malern, die sie in der Künstlerkolonie Worpswede trifft.

Breiten Raum in dem sehr lebendig geschriebenen Buch nimmt die konfliktreiche Beziehung zu Rilke ein, der den Tatendrang seiner Frau dämpfte. Dass das Ablehnen von Verantwortung und das Zurückstoßen von Menschen in Rilkes ­Leben System hatten, zeigt Heimo Schwilk in "Rilke und die Frauen" (Piper, 336 S., 22,99 Euro). Das Buch offenbart einen egomanischen Meister der Selbstinszenierung, der nur aus der Distanz lieben konnte, sich in Krankheiten flüchtete und reiche Gönnerinnen wie Weihnachtsgänse ausnahm. Schwilk gelingen dabei aber einfühlsame Porträts von Clara Westhoff, Sophia Rilke, Lou Andreas-Salomé, Marie von Thurn und Taxis und vielen anderen.

Lou Andreas-Salomé lernte 1891 Frieda von Bülow kennen, die damals mit 43 Jahren bereits ein Abenteurer­leben hinter sich hatte. Ihr nähert sich Kerstin Decker in dem lebendig formulierten Buch "Meine Farm in Afrika. Das Leben der Frieda von Bülow", das zwischen Roman und Biografie changiert (Berlin Verlag, 480 S., 22,99 Euro). Nachdem sich die Adlige in den rassistischen Kolonialeroberer Carl Peters verliebt hatte, folgte sie ihm 1885 nach Deutsch-Ostafrika. Nach ihrer Rückkehr 1889 begann die "deutsche Tania Blixen" zu schreiben. Sie gilt als "Schöpferin des Kolonialromans" und zugleich als eine der frühen Feminis­tinnen, die neue Handlungsspielräume für Frauen erkämpfte.

Soziale Rebellinnen

Monika Czer­nin, die 2008 eine Biografie über Frieda von Bülow veröffentlicht hat, widmet sich in ihrem neuen Buch Anna Sacher. Nach dem Tod ihres Mannes 1892 machte sie dessen Hotel zu einem der berühmtesten Häuser in Europa. "Das Sacher war immer mehr als ein Hotel", schreibt Czernin: "Es war einer der Mittelpunkte der Wiener Gesellschaft", ein Dreh- und Angelpunkt der Epoche vor dem Ersten Weltkrieg und der bitteren Zeit danach, die in "Das letzte Fest des alten Europa. Anna Sacher und ihr Hotel" wiederaufersteht (Knaus, 352 S., 19,99 Euro).

In der Welt der Hotels bewegte sich zwangsläufig auch Ingrid Bergman, die am 29. August 100 Jahre alt geworden wäre. Birgit Haustedt hat der Schauspielerin, die mit Alfred Hitchcock, mit Humphrey Bogart und Cary Grant drehte, mit "Ingrid Bergman" ein Denkmal gesetzt (Ebersbach & Simon, 112 S., 24,95 Euro). Flankiert von rund 50 großformatigen Fotos erlaubt Haustedt unzählige Blicke hinter die Kulissen. Bergmans Rebellion gegen Hollywood, die Demontage ihrer Rolle als "natürliche Frau von nebenan" durch die Liaison mit Regisseur Roberto Rossellini, ihr Höllenritt durch die Medien, Streit um Sorgerechte, Schuldgefühle – all das wird prägnant erzählt.

Wie Rossellini glaubte auch Edith Tudor-Hart an die politische Macht der Bilder. Sie wurde mit fotografischen Sozialreportagen bekannt. Die 1908 geborene Österreicherin lebte später in Groß­britannien – und webte dort maßgeblich am Spionagenetz der Sowjetunion, was erst nach ihrem Tod 1973 öffentlich wurde. Ihr Großneffe Peter Stephan Jungk hat ihre Lebensgeschichte recherchiert: "Die Dunkelkammern der Edith Tudor-Hart" (S. Fischer, 320 S., 22,99 Euro) ist kein chronologisch geordnetes Sachbuch, sondern setzt sich aus einzelnen Szenen zusammen, aus Erlebnissen des heutigen Dokumentarfilmers mit ihr, aus Familienerinnerungen und Recherche-Ergebnissen – ein Mosaik, das sich sehr spannend liest.