Neue Dorf- und Stadtgeschichten

Sehnsucht nach dem naturnahen Leben

12. Januar 2018
von Malu Schrader
Stadt und Dorf als Gegenentwürfe möglicher Lebensgestaltung: Wer das eine hat, sehnt sich nach dem anderen – aber kompliziert ist das Leben überall. Ortsbesichtigung eines literarischen Trends anhand von Neuerscheinungen.

"Die Schwärmerei für die Natur kommt von der Unbewohnbarkeit der Städte", meinte einst Bertolt Brecht. Die aktuellen Romane, in denen es auffallend oft um die Sehnsucht der Städter nach dem einfachen, naturnahen Leben geht, scheinen ihm recht zu geben. Umgekehrt löst allerdings das dörfliche Leben auch Schwärmerei fürs Urbane aus: weniger soziale Kontrolle, mehr Freiheiten, mehr Möglichkeiten.

Letztlich geht es stets um Herkunft, Identität und Heimat – und darum, das eigene Leben zu meistern. In Fran Coopers "Die Leute von Nr. 37" (Heyne, 352 S., 10,99 Euro) wohnen die meisten Nachbarn schon lange Tür an Tür. Man kennt sich, beobachtet sich, kommt größtenteils miteinander aus – bis eine muslimische Familie einziehen will. Während die einen Religion für Privatsache halten, können die anderen ihre Angst vor dem Fremden nicht verbergen. In ihrem Romandebüt erzählt die Britin von hochaktuellen Themen wie Islamfeindlichkeit und der Angst vor Terroranschlägen, aber auch von überforderten Müttern, schrulligen Paaren, Arbeits­losigkeit – ein gelungenes Panorama einer Großstadt und ihrer Bewohner.

Einem ähnlichen Ansatz folgt Christine Zureich in "Garten, Baby!" (Ullstein fünf, Februar, 176 S., 16 Euro): Auch hier steht eine Hausgemeinschaft im Zentrum des Romans, liegen enger Zusammenhalt und Konfliktpotenzial beieinander. Das verbindende Element ist der "Urban Garden" hinter dem Haus: von den meisten geliebt, von der aufgetakelten Nachbarin gehasst. Dazwischen wird geliebt und gestritten, versuchsweise vegan gelebt – und wenn der Nachwuchs kommt, zieht man, leicht wehmütig, raus aus der Stadt. Humorvoll schreibt Zureich von Gemeinschaft, Gartenglück und leiser Sehnsucht nach Natur.

Nebel-Existenzen 

Dass der Traum vom Grünen nicht immer ausschlaggebend ist, um die Stadt zu verlassen, zeigen in diesem Frühjahr gleich mehrere Romane. In Christoph Linhers sprachlich herausragendem Buch "Ungemach" (Müry Salzmann, 128 S., 19 Euro) folgt Rechtsanwalt Maurig der Einladung seiner kranken Großtante, die sich familiä­ren Beistand wünscht – und ihm dafür ihr Haus vermachen will. Während sich ihr Gesundheitszustand stetig verbessert, geht es Maurig immer schlechter. Im Dorf geschieht Merkwürdiges, der Nebel hüllt alles ein, und Maurigs Existenz scheint sich darin aufzulösen.

Ums Erben geht es ebenfalls in Frank Schäfers Roman "Hühnergötter" (Limbus, 200 S., 18 Euro): Held Friedrich bekommt im niedersächsischen Flachland das Haus seines Onkels. Was tun: verkaufen oder selbst einziehen? Friedrich renoviert, trifft auf alte Bekannte – und driftet immer mehr ab in einen Sumpf aus Erinnerungen und nostalgischer Melancholie. Lakonisch und mit leisem Humor erzählt Schäfer von einem Mann, der aus dem Tritt gerät.

Auch in Jan Böttchers fünftem Roman "Das Kaff" (Aufbau, März, 268 S., 20 Euro) geht es um eine Rückkehr: in die norddeutsche Provinz. Ein Architekt nimmt einen Auftrag in seiner Heimat an und katapultiert sich damit aus der urbanen Großstadt in jenes kleinstädtische Leben, das er immer verachtet hat. Je länger er im "Kaff" bleibt, desto mehr verringert sich die Distanz, die er jahrelang aufrechterhalten hat: zu alten Freunden, seinen Schwestern – und den Erinnerungen. Böttcher gelingt ein fein beobachtetes Porträt, das die schönen und schrecklichen Momente kleinstädtischer Lebensrealität aufzeigt.

Marode Bergwelt 

Vom platten Land ins Gebirge: mit Barbara Aschenwalds "Lichter im Berg" (Hoffmann und Campe, Februar, 224 S., 20 Euro) und Marie Gamillschegs Roman "Alles was glänzt" (Luchterhand, März, 224 S., 18 Euro). Aschenwalds Erzählungen sind von beeindruckender Intensität – teils nur zehn Seiten lang, zeigen sie unterschiedliche Perspektiven auf das Leben in dörflicher Umgebung. Sie scheinen miteinander zu verschmelzen, werden zu einer großen Erzählung von den Bergen, die Schutz vor Wind und Wetter bieten, aber auch das Leben kosten können. Sie schildern soziale Kontrolle und Enge, ständige Wiederholung des Alltags und starke Identifikation mit der Heimat.

In "Alles was glänzt" stellt der Berg eine ganz andere Bedrohung dar: Er ist porös, ein Wirrwarr aus Stollen und Gängen verbirgt sich unter der Ober­fläche. Nach der Blütezeit des Bergbaus vollzieht sich zwar ein Strukturwandel – aber die ständige Bedrohung bleibt. In den Serpentinen hat unlängst jemand die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren und ist umgekommen; auch das beschäftigt das Dorf. Die junge Teresa will einfach nur weg, Regionalmanager Merih kommt hingegen an, um eine Auszeit zu nehmen und bei Wirtin Susa laufen alle Fäden zusammen. Vielstimmig erzählt Marie Gamillscheg in ihrem Erstling die Geschichte eines maroden Ortes, der seine besten Zeiten hinter sich hat – und trotzdem Lebensraum bleibt.

Einem existenziellen Wandel ist auch das Fischerdorf "Am See" (Kein & Aber, Februar, 232 S., ca. 20 Euro) unterworfen: Der Industriesee trocknet aus, in postsowjetischen Zeiten ernährt er niemanden mehr. Wer kann, geht in die Stadt, wer nicht, hält sich am Wodka fest. Nami, ein Junge, der bei seiner Großmutter aufgewachsen ist, verlässt das Dorf aber aus einem anderen Grund – er möchte das Rätsel um den Verbleib seiner Mutter lösen. Das Debüt der tschechischen Autorin Bianca Bellová ist eine düstere Coming-of-Age-Geschichte mit existenzieller Wucht, in der Dorf wie Stadt als menschenfeindliche Umgebungen erscheinen.

Weniger radikal kommt Leander Steinkopfs Erzählung "Stadt der Feen und Wünsche" (Hanser, 112 S., 16 Euro) daher, in dem die Leser den Ich-Erzähler auf seinen Stadtspaziergängen begleiten. Er lässt sich durch Berlin treiben, scheint alles zu lieben und alles zu hassen – die Penner, Friedrichshain, die verschiedenen Frauen, die Partys auf den Dächern – und wenn er ganz und gar genug hat, träumt er vom Leben auf dem Land, von freier Liebe und Freilandhühnern. Aber nur kurz. Die "Stadt der Feen und Wünsche" ist die verträumte Erzählung eines Flaneurs, voller Sehnsucht, die in Wahrheit wenig mit einem konkreten Ort zu tun hat.

Lyrik mit Reh 

Nicht nur in Prosa wird das urbane Leben ausgelotet, sondern auch in der Lyrik: Sylvia Geists neuer Gedichtband "Fremde Felle" (Hanser, März, 96 S., 18 Euro) erzählt von Scherbenjuwelen beim Supermarkt, von Gespenstern, die nach Zigaretten oder ein paar Cent fragen, und von Rehen, die Häuser zu okkupieren drohen. Schon zehn Minuten von zu Hause entfernt geraten Geists Figuren in eine andere Welt; menschliche Wärme finden sie unter der Trockenhaube. Sprachmächtige Gedichte, die die Ränder des modernen Lebens ausloten und die man wieder und wieder lesen kann.

Deutlich wird bei allen Texten, dass es letztlich immer um die Frage geht, wie und wo man am besten lebt, wie viel Einfluss man überhaupt darauf nehmen kann – und welchen Sinn das alles hat. Wenn man es mit Mattea aus Aschenwalds Erzählung "Ausserwind" hält, ist die Sache ganz einfach: "Was machen wir denn hier? Arbeiten, essen, trinken, atmen, heiraten, tanzen, schlafen, Kinder großziehen, trauern, lesen, feiern, Frühstück machen, und die Betten, und sterben. Und die Steuer."