Neue Titel zum Alter

Liebe, Lust und viel Gefühl

20. August 2015
von Börsenblatt
Altern ist ein fortschreitender, nicht umkehrbarer biologischer Prozess. So schlicht steht es im Wörterbuch. Mehr Dimensionen des Themas Alter gibt es in der Belletristik.

Die Summe eines Lebens

Der 88-jährige Expolizist Baruch wird im Altersheim von dem legendären Bankräuber Elijah aufgesucht, der um sein Leben fürchtet. Ich-Erzähler Baruch ist zwar immer noch daran gelegen, den nie gefassten Kontrahenten von vor 50 Jahren zu erwischen, er vermutet aber ein falsches Spiel und wird in turbulente Entführungsgeschichten verstrickt. Ungeachtet der Warnungen seiner Frau stürzt sich der Detective ins Abenteuer und hat nicht nur mit Gegnern, sondern auch seinem schwer beweglichen Körper, einem hinderlichen Rollator und seinem nachlassenden Gedächtnis zu kämpfen. Immer wieder dreht sich die Story um Überzeugungen, tragische Ereignisse und darum, wie man sich am Lebensende noch selbst in die Augen sehen kann.

Daniel Friedman: »Der Alte, der die Rache liebte« / Rütten & Loening  /  Oktober  /  320 S. / 17,99 €

Frischer Schwung

Bei der Begegnung mit einem Milchlaster hat sich der 81-jährige Frank Derrick Arm und Bein ge­brochen. Als seine Tochter Beth auf einer Haushalts- und Pflegehilfe besteht, ist er zunächst gar nicht begeistert. Nur merkt er, dass mit der körperlichen Einschränkung eben alles ziemlich langsam vonstatten geht – und dass jene Helferin Kelly neuen Schwung in sein eintöniges Leben bringt. Der Perspektivwechsel lässt ihn die alltäglichen Abenteuer entdecken.

J. B. Morrison: »Wie Frank Derrick mit 81 Jahren das Glück kennenlernte«  /  Bastei Lübbe  /  288 S.  /  14,99 €

Falsche Sicherheiten

Maskierte Einbrecher bedrohen den pensionierten Literaturwissenschaftler Anton und seine Frau Franziska, die ihre Ohnmachtsgefühle danach kaum verarbeiten können. Radikal verändert sich Antons Blick auf sein Leben. Verdrängte Bilder aus seiner Kindheit kommen hoch – in der NS-Zeit wurde sein Vater in der Wohnung verhaftet. Behutsam fasst Kronenberg die Hilflosigkeit des Alten in Worte und zeigt, wie sehr die Kindheit das Leben bis ans Ende bestimmt.

Yorck Kronenberg: »Tage der Nacht«  /  dtv  /
256 S.  /  18,90

Plädoyer für mehr Gefühl

»Für die zerbrechlichen Seelen, welche lieben, ohne sich selbst zu lieben« – die Widmung im Debüt Lorenzo Marones, geboren 1974 in Neapel, öffnet einem das Herz. Sie trifft auch auf Cesare Annunziata (77) zu, seinen Protagonisten. Cesare hat sich gegen die Enttäuschungen des Lebens und die Zumutungen des Alters mit Ironie und Sarkasmus ganz gut gewappnet, so richtig wollen seine Tricks aber nicht mehr funktionieren. Was tun? Zum Beispiel sich engagieren, Gefühle zulassen, ohne angezogene Handbremse leben und lieben. Seine Heimat Italien hat der gelernte Jurist Marone mit seinem erfrischenden Entwicklungsroman jedenfalls im Handstreich erobert. Weil sein Cesare witzig ist und sehr, sehr ehrlich.

Lorenzo Marone: »Der erste Tag vom Rest meines Lebens«  /  Pendo  / September  /  288 S.  /  16,99 €

Lyrisches über die Zeit

Mit Titeln wie »Das Liebesgedächtnis«, in dem Sybille Knaus einfühlsam die neue Liebe, aber auch den Gedächtnisverlust einer 60-Jährigen beschreibt, thematisiert der Verlag Klöpfer & Meyer immer wieder das Älterwerden. Höchst eindrucksvoll ist die Gedichtsammlung »Altershalber«, die unterschiedliche Facetten der Zeit, der Erinnerung, und des Verlusts der Schönheit, der Sinnlichkeit und der Wahrnehmung beleuchtet. Die Bandbreite der Autoren, die ihre Erfahrungen weitergeben, reicht dabei von den Barockdichtern bis zu Robert Gernhardt und Durs Grünbein.

Henriette Herwig, Helmut Zwanger (Hrsg.): »Altershalber. Gedichte aus acht Jahrhunderten«  /  Klöpfer & Meyer  384 S.  /  29 €

Selbstbestimmte Alten-WG

Fünf alte Freunde aus Kindertagen gründen eine WG: Softwareunternehmer Ernst kauft eine Villa am Starnberger See, um mit Jurist Wilhelm, Lebens­mitteltechnologe Heinrich, Regisseur Siegfried und Journalist Carl den Lebensabend zu verbringen. Carl hält die unterschiedlichen Charaktere und das gemeinsame Leben fest. Christoph Poschenrieder erweist sich als fulminanter Erzähler, der in diesem Mikrokosmos schonungslos die Probleme des Altwerdens auffächert. Angesichts zunehmender körperlicher Hinfälligkeit entwickelt Ernst ein Computerprogramm, das die Freundschaftsdienste beim Sterben regelt. Ein großartiger Roman ohne jegliche Larmoyanz.

Christoph Poschenrieder: »Mauersegler«  /  Diogenes  / 224 S.  /  22 €

Von wegen ruhiger Lebensabend

»Ich bin ein vollkommen durchschnittlicher Mensch mit keiner außergewöhnlichen Begabung«, schreibt Mirjam Müntefering (Jahrgang 1969) über sich auf ihrer Homepage. Ihre Leser sehen das anders: Müntefering kann Geschichten erzählen, die mitreißen und berühren. In ihrem neuen Roman kreuzen sich die Wege von Charlotte (70) und ihrer Großnichte Lotte (17), die für ein paar Monate bei Charlotte einzieht. Schwierig. Die Lehrerin Irene kommt ins Haus ... Und während Charlotte ihr Leben lang heimlich Frauen geliebt hat (Irene!), verliebt Lotte sich ohne Umwege in die Nachbarstochter. Das alles ist auch sehr lustig. »Neben viel Herz darf natürlich auch wieder volles Brett gelacht werden«, verspricht Müntefering ihren Fans. Versprechen gehalten. 

 Mirjam Müntefering: »Anders geht immer«  /  Ulrike Helmer Verlag / September  /  280 S.  /  14,95 Euro

Brüchige Erinnerungen

Die 83-Jährige Etta macht sich in Kanada allein auf den Weg: Sie will zum Meer, das sie noch nie gesehen hat. Ihr Mann lässt sie ziehen, ihr Nachbar dagegen bricht auf, um ihr beizustehen – was Etta gar nicht möchte. Auf ihrem 3 000 Kilometer langen Fußmarsch wird sie zu einer Berühmtheit und kämpft mit Phasen von Demenz. Die gemeinsame Jugend, Zeiten des Kriegs, Hoffnungen und versteckte Gefühle: In kaskadenartigen Rückblenden und inneren Monologen enthüllt Emma Hooper in ihrem Debüt die gemeinsame Lebensgeschichte der drei Alten und die Brüchigkeit von Erinnerungen. Weise, anmutig und erstaunlich reif für eine Autorin, die die 30 gerade erst überschritten hat!

Emma Hooper: »Etta und Otto und Russell und James«  /  Droemer  /  September  /  334 S.  /  19,99 €

Nichts ist so rätselhaft wie die Liebe

Die polnische Schriftstellerin Tecia Werbowski (geboren 1941) lotet in ihrem schmalen Roman »Etwas fehlt« die Liebe in allen Nuancen aus: Ihre Protagonistin Esther macht mit über 60 Jahren die Bekanntschaft Leons. Beide wollen viel, aber nicht immer unbedingt das Gleiche. Und immer dabei ist Leons verstorbene Frau. Gleichzeitig interessiert Esther sich sehr für die wechselnden Freundinnen und das abwechslungs-reiche Sexleben ihres einzigen Sohns Richard – der ihr dringend rät, Michel Houellebecq zu lesen, um die Männer zu verstehen. Das altersunabhängige Rätsel Liebe löst der französische Kollege aber auch nicht.

Tecia Werbowski: »Etwas fehlt«  /  Atlantik  /  128 S.  /  15 Euro

Altern – aber temporeich

Eine Beerdigung und ein Toskana-Roadmovie bilden den Auftakt zu dieser Sozialkomödie: Bereits die eindrucksvollen Physiognomien der drei 70-jährigen Freunde Antoine, Pierrot und Mimile verraten, dass sie viel erlebt haben und keineswegs gewillt sind, sich die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Mit Stil zu altern ist ihr Ziel. Die quicklebendige Graphic Novel hat auf dem Comicfestival in Angoulême zu Recht den Publikumspreis erhalten. Ein zweiter Band folgt.

Wilfrid Lupano, Paul Cauuet: »Die alten Knacker – Die übrig bleiben«  / Splitter  / 64 S.  /  14,80 €