Plagiatsvorwurf: Kommentar zu Hegemanns „Axolotl Roadkill“

Coole Selbstinszenierung nach szenetauglicher Maßgabe

8. Februar 2010
von Börsenblatt
Wolfgang Schneider kommentiert den Plagiatsvorwurf gegenüber Helene Hegemanns Roman "Axolotl Roadkill“ (Ullstein).
Mein Eindruck nach ein paar Seiten Probelesen von „Axolotl Roadkill“ im Dezember: Bitte nicht schon wieder, nicht schon wieder dieser verbale Extremismus, nicht schon wieder so ein durch eigene Erfahrung ungedeckter Pubertätsburroughs, nicht schon wieder dieses aufgebrezelte Gerede vom Gewaltsex, dieses vor bühnentauglichen Klischees strotzende Bild wohlstandsverwahrloster Jugend, nicht schon wieder diese so leicht dahin behaupteten Schmerzgebärden, mit deren Manieriertheit die Autorin ja schon im allerersten Satz selbst kokettiert. Schon nach wenigen Seiten ahnt man, dass das Buch auf schnellstem Wege in den Berliner Technostampfer Berghain führen wird, den glühenden Kern aller Welterfahrung. Hab’s weggelegt – und mich dann gewundert über die Sturzbäche der Begeisterung in den Medien.

Natürlich habe ich das Buch unterschätzt. Vielleicht war ich ungerecht, weil ich kurz vorher „Naked Lunch“ noch einmal gelesen hatte und mir viele Motive deshalb so epigonal erschienen. Kein Zweifel, das Talent der jungen Autorin ist außerordentlich. Vor allem die Lakonie und Komik der Dialoge können beeindrucken, das lässige Hinwerfen filmisch prägnanter Szenen. Die Versiertheit, mit der die Siebzehnjährige die um 1960 von Burroughs eingeführte Cut-up-Methode praktiziert.

Aber was sucht die Welt im Roman einer Siebzehnjährigen? Eine Extraportion Authentizität. Eine Wagenladung voller Weltschmerz und Weltwut, wie sie älteren Autoren mit gedämpfterem Lebensgefühl so nicht mehr abgekauft wird. Der ewig jungwilde Maxim Biller sprach in seiner hymnischen Rezension denn auch von der Schönheit der „Aufrichtigkeit“. Das „Ich“-Konstrukt aus Hegemanns Buch dürfte aber zu den unauthentischsten Figuren seit langem gehören. All diese Erfahrungen sind doch offensichtlich angelesen, nicht dem „Grundgeräusch unserer Wirklichkeit“ abgelauscht, das die Kritikerin Ursula März im Roman vernommen haben will, sondern dem Grundgeräusch unserer Medien.

Im wahren Leben hat sich die Schulschwänzerin Hegemann kein Kokain, sondern eine Linie Bücher nach der anderen bei Dussmann reingezogen. Die Programmkinos und Theater Berlins waren die Dealer, die ihr reichlich guten Stoff gaben. Ihre intensive Medienerfahrung, ihre in der Ostberliner Theaterszene geschulte Begabung zur Wiedergabe von Jargon und Gruppensprachen, schließlich die vom Vater Carl Hegemann und Mentoren wie Christoph Schlingensief vermittelte Vertrautheit mit angesagten Diskursen und künstlerischen Provokationsmechanismen – all das hat Hegemann geschickt rückübersetzt in ein apokalyptisches Phantasma der Berliner Jugend.

Nun hat am Wochenende das „Gemachte“ des Buches zu massiven Plagiats-Vorwürfen geführt. Hat die Autorin ihren Roman zu nicht geringem Teil einfach mit kleinen Veränderungen abgeschrieben, besonders ergiebig bei der Technoprosa „Strobo“ des Berliner Bloggers Airen? Die erst vorläufige Sammlung von Parallelstellen, mit vielen wörtlichen Übereinstimmungen, ist beeindruckend und überzeugend. 

Haben wir es also nicht mit dem Drama des kaputten Kindes, sondern mit der Komödie eines Copy-and-paste-Plagiats zu tun? Haben wir uns das „popkulturelle Aschenputtel“ (Georg Diez) als putzmuntere Piratin vorzustellen? Während der Verlag jetzt schon mal vorsorglich Rechteinhaber auffordert, sich doch bitte zu melden (und zugleich die „Sharing-Kultur“ des Internets als zeitgemäßes ästhetisches Modell nahe legt), erläutet Helene Hegemann in einer eiligen Erklärung ihr Zitatverfahren, spricht von Einflüssen, Prägungen, intellektuellen Fremdeinschreibungen im eigenen Kopf, in dem jeder sowieso nur Untermieter sei. Und bezieht geschickt die aktuelle Urheberrechtsdiskussion mit ein. Wir haben es, das wird immer deutlicher, mit einer erstaunlich raffinierten Autorin zu tun.

Was ergibt sich daraus aber für die Beurteilung des Romans, für die scharfe Mischung aus Verzweiflung, Ekel, Selbsthass und Hardcore-Geplapper? Wenn das alles kein leidensdruckgetriebenes Schreiben, sondern überwiegend artifizielles Trash-Theater eines Volksbühnenwunderkindes ist, coole Selbstinszenierung nach szenetauglicher Maßgabe, dann erscheint der Roman tatsächlich „total unaufrichtig“ (Hegemann) – und streckenweise fast so abgeschmackt wie der Werbe-Trailer bei YouTube, wo Achtjährigen das Heroingeschwätz aus „Axolotl Roadkill“ in den Mund gelegt wird.