Preisverleihungen

Im Rausch der Listen

29. September 2016
von Börsenblatt
Endlich herrscht Ordnung im Literaturbetrieb. Long- und Shortlists helfen dem Publikum dabei, den Überblick zu behalten. Rainer Moritz hat persönlich ein tiefes Verständnis für die Anfertigung solcher Rangfolgen.

Lange ist es her, da prägte der Philosoph Jürgen ­Habermas die eingängige Formel von der »neuen Un-übersichtlichkeit« unserer Welt. Recht hatte er schon damals, und darüber zu lamentieren, sich nirgendwo mehr zurecht­zufinden, gehört inzwischen zum Allgemeingut des täglichen Wehklagens. 

Auch ich habe schon früh unter der immensen Vielfalt der Welt gelitten und als Pubertierender damit begonnen, Listen zu erstellen, die meine Zukunft überschaubarer machen sollten. Ein Beispiel: Um den Überblick darüber zu bewahren, bei welchen als sehr interessant eingeschätzten Mädchen ich mir vielleicht Chancen ausrechnen dürfte, fertigte ich im ­Wochenrhythmus Ranglisten der Wahrscheinlichkeit an. Mal stand Kerstin, deren Mutter eine Modeboutique hatte, ganz oben auf meiner Shortlist, mal Regine, deren Vater Bankdirektor war, bis plötzlich Susanne, die mir im Konfirmandenunterricht so liebreizend zulächelte, an den beiden spielend vorbeizog. Genützt haben mir diese Listen in allen drei Fällen nicht, aber das ist eine andere Geschichte.

Noch heute stelle ich jeden Freitagnachmittag To-do-Listen für die kommende Woche auf (Text fürs Börsenblatt schreiben, Mutter anrufen, Auto zur Inspektion bringen, neue To-do-­Listen schreiben ...) und bin froh, mir auf diese Weise einreden zu können, alles laufe wie am Schnürchen. Umso besser, dass das Listenwesen in der Zwischenzeit auch den Kulturbetrieb erreicht hat und mein Leben somit weitere Erleichterung erfährt. Die Medien- und Werbebranche praktiziert das ja seit Langem und veröffentlicht etwa beim Deutschen Preis für ­Onlinekommunikation Shortlists (»engere Auswahllisten«, sagt der Duden dazu) in stattlichen 35 Kategorien. Für den Best of Content Marketing Award (dazu sagt der Duden nichts) wiederum gibt es 187 Nominierte, was mir – der Übersichtlichkeit wegen – eine Spur zu üppig erscheint. 

Diesen Beispielen folgend, gibt es mittlerweile kaum noch einen Literaturpreis, der ohne Longlists und Shortlists auskommt. Ob Deutscher Buchpreis, Preis der Leipziger Buchmesse, Wilhelm-Raabe-Preis, Aspekte-Preis, Tractatus (der ­Essaypreis des Philosophicum Lech) oder Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft – überall schwelgt man im Listenrausch. Dieser soll offenkundig siedende Spannung aufbauen, Juroren beschäftigen, in der Flut der No­vitäten für Ordnung sorgen, Büchertische im Sortiment generieren oder aber Autoren vom Schreiben abhalten, da die ­wochenlang darüber nachzusinnen haben, ob aus ihrem Nominierten- vielleicht ein Preisträgerstatus werden könnte, und sich so kaum noch ihren Texten widmen können. 

Möglicherweise ließe sich die Listenproduktion auf weitere Gesellschaftsbereiche ausdehnen. Die CDU sollte (bei der SPD ist das nicht nötig) frühzeitig eine Nach-Merkel-Kanzlerkan­didaten-Shortlist basteln, damit Horst Seehofer sie absegnen kann, und auch die Wahl eines neuen Bundespräsidenten fiele leichter, wenn klar wäre, wer neben Winfried Kretschmann, Navid Kermani und einer Frau, am besten Katrin Göring-­Eckardt, Christine Westermann oder Mutter Beimer, für die Gauck-Nachfolge infrage käme. Das würde, was ja immer gefordert wird, die politische Diskussion transparenter machen.

Ich selbst werde mein Leben listenmäßig weiter perfektionieren und umgehend eine Liste in Erwägung zu ziehender ­Listen aufstellen. Vorher googele ich aber, was aus Kerstin, ­Regine und Susanne geworden ist, die am Anfang meines Listenlebens standen.