Roman-Erfolgsrezept Familiengeheimnisse

Mut zur Wahrheit

14. Juni 2017
von Andrea Rinnert
Hauptsache ungeheuerlich: Familiengeheimnisse treiben eine Romanhandlung zuverlässig voran – nicht bloß bei romantischen Plots.

Was lange gärt, braucht irgendwann ein Ventil. Von diesem Naturgesetz können Romanplots allemal profitieren, wenn sie ein lang unter Verschluss gehaltenes Familiengeheimnis lüften – nein, Omas Stollenrezept genügt nicht! Wo aber gibt es noch generationsübergreifend Verborgenes von angemessener Ungeheuerlichkeit? In Romantikschmökern derzeit zuhauf, vorzugsweise in Gestalt ungeahnter Verwandter, egal ob Vorfahren oder Nachkommen.

Die Startsignale für eine reizvolle Rätseljagd mit Happy End sind für die geneigte Liebesroman-Leserin leicht zu erkennen: Job weg, Mann weg, Stadtleben ade – fiktiven weiblichen Geschöpfen kann nichts Besseres passieren, denn ein Mr. Right harrt ihrer bereits auf dem Land. Raue Regenregionen mit Stürmen und Klippen passen – das haben Verlagshäuser wie List, Piper, Insel, Bastei Lübbe und Random House sich vermutlich bei den Brontë-Schwestern abgeschaut – am besten zu leidenschaftlichen Emotionen. Somit darf Giselle – als Steinmetzin optimal qualifiziert, eine Mauer des Schweigens zu durchbrechen – gern in der Bretagne einen Kloster-Kreuzgang restaurieren (Marie Lamballe, "Der Hortensiengarten", Bastei Lübbe, 496 S., 9,90 Euro) und die von Tracy Rees in der viktorianischen Zeit platzierte Titelheldin ("Die zwei Leben der Florence Grace", List, 464 S., 14,99 Euro) ihr Londoner Luxusleben gegen ein bescheidenes Bauernhaus-Dasein in den Mooren Cornwalls eintauschen.

Couragierte Frauen scheinen in der Belletristik ständig verwickelt in das Aufdecken innerfamiliärer Mysterien – sobald sie einen gewissen Hang zur Selbsttäuschung überwunden haben. Typisch zögerlich verhält sich insofern Mona in Nava Ebrahimis melancholischem Debüt "Sechzehn Wörter" (btb, 320 S., 18 Euro): Erst bei einer unfreiwilligen Heimreise in den Iran registriert die Journalistin, wie rücksichtslos ihre Großmutter einst eine uneheliche Schwangerschaft vertuschte. Danach kann sie ihre Herkunft neu annehmen.

Doch auch Alter schützt vor Wahrheit nicht, wie Harriet in "Eine fast perfekte Ehefrau" mit 78 Jahren zu spüren bekommt (Kiepenheuer & Witsch, 288 S., 19,99 Euro): Mit tiefschwarzem Humor geht Autor Jonathan Evison das Thema Ehebruch an, indem er der frischgebackenen Witwe, die sich Jahrzehnte unter der "hausfraulichen Glasglocke" abgeplagt hat, zusätzlich zur Gratis-Alaska-Kreuzfahrt einen untoten Ehemann aufbürdet.

Durchweg beklemmend mutet hingegen jenes Familienklima an, das Ulrike Anna Bleier in ihrem neuen Roman mittels eines hochpoetischen inneren Monologs schildert. "Schwimmerbecken" (Lichtung, 158 S., 16,90 Euro) ist mindestens ein kleines Meisterwerk: über kleinbürgerliche Borniertheit, über Eltern, die angesichts von dörflichem Normalitätsdruck lieber das totschweigen, was sie selbst nur vergessen wollen – und damit einem medizinischen Unglücksfall erst eine zerstörerische Monstrosität verleihen. Die verträumte Tochter Luise, zugleich die Ich-Erzählerin, kann und will erst nicht begreifen, was ihren Zwillingsbruder quält. Warum war er fünf Jahre verschwunden und ist nun wieder zurückgekehrt, ohne sich mitteilen zu können?

Wenn Privates und Politisches sich in literarischen Familiengeheimnissen verschränken, treten autobiografische Elemente in den Vordergrund – nicht nur bei dem preisgekrönten Buch "Sie kam aus Mariupol" (Rowohlt, 368 S., 19,95 Euro), für das Natascha Wodin das Schicksal ihrer Mutter rekonstruierte, einer als Zwangsarbeiterin deportierten Ukrainerin.

Die nationalsozialistischen Verbrechen in Frankreich beleuchtet "Ein Geheimnis", neu in einer Geschenkausgabe erhältlich (Suhrkamp, 180 S., 10 Euro). Der Psychoanalytiker Philippe Grimbert schildert darin aus der Perspektive des Nachgeborenen mit nüchterner Eloquenz seine von der Shoah geprägte Familiengeschichte – die seine Eltern lange vor ihm verbargen. Ein bewegendes Plädoyer dafür, sich durch Erzählen von einer Bürde zu befreien.

Chris Kraus hingegen hat seine Herkunft aus einer "Täterfamilie" – sein Großvater mordete in der SS – zum Schreiben veranlasst: Sein Epos "Das kalte Blut" (Diogenes, 1 188 S., 32 Euro) handelt von zwei deutschbaltischen Brüdern, in deren aberwitzigen Nazi- und Geheimdienstkarrieren sich sämtliche Gräuel des 20. Jahrhunderts spiegeln – und ebenso klar die personellen Kontinuitäten im Nachkriegsdeutschland.

Eine zeitlich anschließende, von RAF-Anschlägen geprägte Ära steht im Mittelpunkt von Odile Kennels Roman "Mit Blick auf See" (dtv, August, 272 S., 20 Euro). Just in die Provinz umgezogen, sieht sich die gestandene PR-Agentin Béatrice nämlich plötzlich genötigt, sich nicht nur wegen eines Buchprojekts, sondern auch aus persönlichen Gründen für den Deutschen Herbst zu interessieren: Denn ein fremder Besucher beharrt darauf, dass Béatrice seiner Mutter damals begegnete und sogar weiß, warum sie 1977 verschwand. Als Béatrice ihrem Gedächtnis zu misstrauen beginnt, entsteht das vielstimmige Porträt einer Zeit, deren Geheimnisse bei Aktenfreigabe womöglich an Brisanz sogar die Literatur übertrumpfen.