Scholl-Preis

"Eine Miniatur der chinesischen Gesellschaft"

14. November 2011
von Börsenblatt
Liao Yiwu wird heute abend in München mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Im Interview mit boersenblatt.net spricht der chinesische Autor über die heimlichen Gesetze in den Gefängnissen seiner Heimat – und den literarischen Filter der Erinnerung.

Ihnen wurde das Manuskript „Für ein Lied und hundert Lieder“ mehrmals von den chinesischen Behörden abgenommen. Wie gelang es Ihnen, das Buch überhaupt fertig zu schreiben?

Liao Yiwu: Die erste Fassung habe ich zu einer Zeit erarbeitet, als die Erinnerung an meine Gefängnishaft noch sehr frisch gewesen ist. Es war das längste Manuskript mit über 300 000 Schriftzeichen. Es wurde mir im Oktober 1995 abgenommen. Für das Abfassen der zweiten Fassung brauchte ich anderthalb Jahre, obwohl diese etwas kürzer war als die erste. Das dritte Manuskript schließlich ist das kürzeste und wurde im Jahr 2000 beendet. Viele Sachen sind verloren gegangen, aber andere Details und Geschichten sind in meiner Erinnerung wieder wach geworden. So gesehen, kann man nicht von Glück oder Unglück reden, dass die ersten zwei Manuskripte konfisziert worden sind.

Sie haben viel Schrecken, Folter und Mord in den chinesischen Gefängnissen gesehen und erlebt. Welche Gefühle hat man, wenn man das real Erlebte in Literatur niederschreibt?

Liao Yiwu: Wie gesagt, dass dritte Manuskript hat mit einem intensiven Erinnerungsprozess zu tun, der per se eine literarische Form ergibt. Da sind keine Rekorder und Videokameras im Spiel, die alles real aufnehmen. Außerdem gilt: Im Gefängnis konnte ich nicht schreiben. Das heißt, alles Erlebte und die Gespräche, die ich dort führte, wurden durch die Erinnerung „gefiltert“. Und genau das ist für mich ein literarischer Prozess. Das höchste Ziel von Literatur ist es, die „wahre Geschichte“ wiederzugeben – und das in all ihren Facetten. 

In chinesischen Gefängnissen dulden die Behörden eine schreckliche Hierarchie von „Killern“, die andere Mithäftlinge quälen, und Bosse, die das Gefängnisleben organisieren. In den Konzentrationslagern gab es jüdische Mithäftlinge, Kapos, die Befehle der Nazis ausführten. Kann man, darf man hier Parallelen ziehen?

Liao Yiwu: Es gibt durchaus Ähnlichkeiten. Doch der eigentliche „Charakter“ der chinesischen Gefängnisse ist ein anderer. Die KZ’s hatten das Endziel, die Juden zu vernichten. In China geht es nicht um die physische Auslöschung, sondern eine komplette Gehirnwäsche wird vollzogen, um den Verurteilten zu reformieren. Die Gefängnisse bei uns sind eine Miniatur der chinesischen Gesellschaft. Es gibt eine strenge Hierarchie. Die Gefängniswärter mögen grausam, ja, böse sein, aber sind an Regeln gebunden. Sie verwenden zwar Folterwerkzeuge, aber jemand zu Tode zu quälen, ist ihnen verboten. Hingegen ist unter den Gefangenen alles erlaubt. Es gibt also Gesetze, die eingehalten werden müssen. Es gibt aber auch „verdeckte Gesetze“, die viel Freiraum lassen für zügellose Gewalt.

Sie erhalten den Geschwister-Scholl-Preis für ihr Buch „Für ein und hundert Lieder“. Sophie, Hans Scholl und die Mitglieder der „Weißen Rose“ haben als Jugendliche Widerstand gegen das NS-Regime geleistet. Wie viele jüngere Menschen gibt es in China, die mit der jetzigen Politik nicht einverstanden sind und Gehorsam, im Kleinen wie im Großen, verweigern?

Liao Yiwu: Bei Ihrer Frage denke ich unwillkürlich an die Protestbewegung am Platz des Himmlischen Friedens von 1989. Da waren sehr viele junge Leute aktiv, nicht nur Studenten. Doch diese Bewegung wurde blutig niedergeschlagen, viele Menschen wurden verfolgt oder umgebracht. Es gibt Menschen, die aus dieser Zeit noch immer im Gefängnis sitzen. Heute gibt es eine neue Generation, die äußerst wenig von den damaligen Ereignissen weiß. Denn das offizielle China hat die ganze Geschichte mit einem Tabu belegt. Und es sieht im Moment nicht so aus, als ob jungen Chinesen ähnliche Protestaktionen von sich aus wagen würden. Ich hoffe, dass die Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises ein wenig Menschen ermuntert, ihren kritischen Geist öffentlich zu zeigen.

Wird die Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises an Sie in China gehört werden – oder gilt hier totales staatliches Verschweigen?

Liao Yiwu: Natürlich versucht die Regierung, das alles zu verschweigen. Doch via Internet haben meine Freunde die Preisvergabe verbreitet, ebenso durch Twitter, denn auf die Plattform hat die staatliche Firewall keinen Zugriff. Und alle, die in China künstlerisch und intellektuell aktiv sind, wissen um die Bedeutung des Geschwister-Scholl-Preises. Und es ermutigt sie auch, nicht aufzugeben. Ich freue mich natürlich über den Preis, zugleich bin ich auch ein wenig beschämt. Denn seit den Ereignissen am Platz des Himmlischen Friedens sind viele Menschen für ihre Überzeugung gestorben. Ich aber lebe noch und frage mich manchmal, warum das so ist. So ist die Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises an mich auch eine Ehrung der vielen Toten und zugleich ein Symbol dafür, dass weiter Widerstand geleistet werden muss.

Zur Auszeichnung:

Der Geschwister-Scholl-Preis wird vom bayerischen Landesverband des Börsenvereins und dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München vergeben. Er ist mit 10.000 Euro dotiert. Jährlich wird ein aktuelles Buch ausgezeichnet, das "von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern", wie es in den Statuten heißt.

Zum Preisträger 2011:

Liao Yiwu, Jahrgang 1958, ist ein chinesischer Dichter und Romanautor. Für das Gedicht »Massaker«, das er 1989 nach dem Blutbad auf dem Platz des Himmlischen Friedens publizierte, wurde er vier Jahre inhaftiert. Im Juli 2011 konnte er China Richtung Berlin verlassen. Er bekommt den Geschwister-Scholl-Preis für seinen Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen (»Für ein Lied und hundert Lieder«, S. Fischer). Die Laudatio hält Nobelpreisträgerin Herta Müller.