Zunächst zum Hintergrund: Die Verwertungsgesellschaft Wort wurde 1958 mit dem Zweck gegründet, Urheberrechte, Nutzungsrechte und Vergütungsansprüche für ihre Mitglieder, insbesondere Autoren und Verlage, aus der Zweitverwertung ihrer jeweiligen Werke zentral geltend zu machen. Zur Durchsetzung der finanziellen Ansprüche der Urheber zahlen etwa Gerätehersteller und Bibliotheken für die Nutzung von Texten Abgaben an die VG Wort. Die VG Wort verwaltet diese vereinnahmten Gelder treuhänderisch und schüttet diese nach einem Verteilungsplan an die Autoren sowie an die Verlage aus.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat nun entschieden, dass die VG Wort entgegen der jahrzehntelangen Praxis nicht mehr einen pauschalen Anteil der vereinnahmten Gelder an die Verlage ausschütten darf, weil diese keine für die Ausschüttung erforderlichen originären Rechte an den jeweiligen Werken besitzen (Urteil vom 21. April 2016, Aktenzeichen I ZR 198/13). Das bislang auch an die Verlage ausgeschüttete Geld steht nach aktueller Rechtslage daher wenigstens größtenteils den Autoren respektive den Urhebern der Werke zu.
Für die Verlage ergeben sich aus diesem Urteil weitreichende Konsequenzen. Zum einen bricht damit in Zukunft nach aktueller Rechtslage eine im Einzelfall wesentliche Einnahmequelle für Verlage weg, sodass insbesondere kleine Verlage existenzgefährdet sein könnten. Zum anderen müssen Verlage voraussichtlich die seit 2012 erhaltenen Gelder der Verwertungsgesellschaften, insbesondere der VG Wort, wieder zurückzahlen, weil diese unter Rückforderungsvorbehalt ausgeschüttet wurden.
Neben den weitreichenden betriebswirtschaftlichen Folgen für die Verlage müssen sich diese aber auch mit der bilanziellen Behandlung der anstehenden Rückzahlung im Rahmen der Jahresabschlusserstellung befassen. In diesem Zusammenhang stellt sich vor allem die Frage nach dem Erfordernis einer Rückstellung. Sofern die Rückforderungsbeträge, die der Verlag zu leisten hat, wesentlich sind und Eigenkapital und Liquidität aufgezehrt werden, sind zudem insolvenzrechtliche Fragen zu beachten.
Ist eine Rückstellung erforderlich?
Der Ansatz einer Rückstellung nach Paragraf 249 Abs. 1 S. 1 Handelsgesetzbuch für eine Rückzahlung von in der Vergangenheit erhaltenen Geldern ist vorzunehmen, wenn zum Bilanzstichtag eine sichere oder zumindest wahrscheinliche Verpflichtung im Außenverhältnis (gegenüber Dritten) vorliegt, die rechtlich und/oder wirtschaftlich und im Rahmen der betrieblichen Tätigkeit des Verlags verursacht ist – und mit deren tatsächlicher Inanspruchnahme (hinreichend sicher) zu rechnen ist.
Aufgrund des BGH-Urteils vom 21. April ist die Wahrscheinlichkeit der Verpflichtung beziehungsweise die drohende Rückzahlungspflicht der Verlage an die VG Wort hinreichend bestimmt. Die Verpflichtung besteht gegenüber Dritten, ist wirtschaftlich verursacht und betrieblich veranlasst. Da die Ausschüttungen der VG Wort seit 2012 unter Rückforderungsvorbehalt erfolgten, ist zudem davon auszugehen, dass mit einer tatsächlichen Inanspruchnahme hinreichend sicher zu rechnen ist (siehe auch Info-Box unten).
Im Zusammenhang mit den Rückzahlungsforderungen besteht bei den betreffenden Verlagen insofern eine Pflicht zur Bildung einer Rückstellung bedingt durch eine ungewisse, aufgrund der erhaltenen Zahlungen aber hinreichend sicher quantifizierbare Verbindlichkeit. Im Hinblick auf nach dem Bilanzierungszeitpunkt eintretende Ereignisse ist zwischen sogenannten wertaufhellenden und wertbegründenden Tatsachen zu unterscheiden.
Eine wertaufhellende Tatsache liegt vor, wenn zwischen Abschlussstichtag und Tag der Aufstellung des Jahresabschlusses Informationen über Umstände bekannt werden, die bereits am Abschlussstichtag bestanden. Wertbegründende Tatsachen liegen vor, wenn die nach dem Abschlussstichtag eingetretenen Ereignisse keine Rückschlüsse auf die Verhältnisse zum Bilanzstichtag zulassen. Im Jahresabschluss sind nur die wertaufhellenden Tatsachen rückwirkend zu berücksichtigen, wertbegründende Tatsachen hingegen nicht. Fraglich ist nun,
- ob die Rückstellung für Rückzahlungen an die VG Wort rückwirkend in noch nicht aufgestellten Jahresabschlüssen der Verlage passiviert werden muss, deren Stichtag vor dem Ergehen des Urteils liegt (etwa zum 31. Dezember 2015),
- ob gegebenenfalls sogar eine Nachholung unterlassener Rückstellungen in bereits auf- und festgestellten Jahresabschlüssen erforderlich ist
- oder ob eine Rückstellung erst im nächstfolgenden Jahresabschluss (etwa zum 31. Dezember 2016) notwendig ist.
Anzumerken ist in diesem Zusammenhang und im Hinblick auf die Urteilsverkündung des Bundesgerichtshofs, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits am 12. November 2015 darüber geurteilt hat, ob Verleger an einem Ausgleich für Vervielfältigungen der vertriebenen Werke zu beteiligen sind (Aktenzeichen C-572/13). Der BGH hatte das Klageverfahren mit Beschluss vom 18. Dezember 2014 ausgesetzt, um das Urteil aus Luxemburg abzuwarten. Insofern konnte man davon ausgehen, dass der BGH der Ansicht des EuGH Gewicht beimisst. Damit kann das Urteil des BGH als wertaufhellende Tatsache eingestuft werden, die eine rückwirkende Rückstellungspflicht begründet. Denn spätestens mit der Entscheidung des EuGH musste der Bilanzierende hinreichend sicher damit rechnen, dass auch der BGH zuungunsten der Verlage entscheiden werde. Die Höhe der Rückstellung richtet sich nach der Höhe der voraussichtlich zurückzuzahlenden Gelder. Diese sind im Einzelfall bekannt. Es sprechen also mehr Aspekte dafür als dagegen, dass die Rückstellung – handels- und steuerrechtlich – bereits im Jahresabschluss zum 31. Dezember 2015 anzusetzen ist.
Muss der Jahresabschluss geändert werden?
Sofern im bereits festgestellten Jahresabschluss zum 31. Dezember 2015 keine Rückstellung für die nunmehr höchstrichterlich bestätigte Rückzahlungspflicht gebildet wurde, ist die Notwendigkeit einer Änderung des Jahresabschlusses zu prüfen.
Eine Änderung des Jahresabschlusses ist dann nicht erforderlich, wenn der Bilanzierende erst nach der Bilanzaufstellung Kenntnis davon erlangt, dass die Voraussetzungen der Rückstellungsbildung am Bilanzstichtag gegeben waren. Dann sind die bislang nicht gebildeten Rückstellungen im letzten noch nicht festgestellten Jahresabschluss nachzuholen. Insofern kann eine zum Zeitpunkt der Feststellung des Jahresabschlusses vertretbare Auffassung im Nachhinein zumindest zu keinem fehlerhaften Jahresabschluss führen. Dies setzt aber voraus, dass der Bilanzierende, der zum 31. Dezember 2015 keine Rückstellung gebildet hat, dies vertretbar und im Einzelfall bezogen auf seinen Verlag begründen kann.
Welche insolvenzrechtlichen Aspekte gibt es?
Im Einzelfall kann aufgrund der Rückforderungsansprüche der VG Wort auch eine insolvenzrechtliche Prüfung notwendig werden. Denn durch die drohende Rückzahlung kann bei wirtschaftlich schwachen Verlagen eine Überschuldung und/oder Zahlungsunfähigkeit eingetreten sein und damit eine Insolvenzantragspflicht bestehen.
Dies ist bei entsprechenden Anhaltspunkten jederzeit, also nicht nur während der Aufstellung eines Jahresabschlusses oder zu einem bestimmten Bilanzstichtag zu prüfen. Die handelsrechtliche Rückstellungsbildung ist indes ein erster Anhaltspunkt. Denn wenn bei einer Bewertung zu Buchwerten das Eigenkapital aufgebraucht ist, also eine bilanzielle Überschuldung entsteht, muss eine insolvenzrechtliche Überschuldung geprüft werden. Diese löst bei juristischen Personen (etwa GmbH, AG, UG) und bei GmbH & Co. KG eine Insolvenzantragspflicht aus, deren Nichtbefolgung straf- und haftungsrechtliche Konsequenzen für die Leitungsorgane haben kann.
Eine insolvenzrechtliche Überschuldung liegt dann vor, wenn das Vermögen des Schuldners seine bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich. Das bedeutet, dass trotz einer rechnerischen Überschuldung (auf der Grundlage tatsächlich erzielbarer Werte des Aktivvermögens und tatsächlich zu erfüllender Verbindlichkeiten) eine für die Insolvenzantragspflicht relevante Überschuldung nur dann besteht, wenn die Finanzkraft des Unternehmens mittelfristig nicht zur Fortführung des Unternehmens ausreicht (Fortbestehensprognose).
Diese Fortführungsprognose ist von den Leitungsorganen in einer für Dritte nachvollziehbaren Art und Weise zu erstellen – auf der Grundlage eines aussagekräftigen undplausiblen Unternehmenskonzepts, aus dem ein Finanzplan mit allen zu erwartenden Ein- und Auszahlungen abzuleiten ist. Hierbei muss aktuell berücksichtigt werden, dass möglicherweise künftig nicht mit Ausschüttungen von der VG Wort gerechnet werden kann. Mögliche Rückzahlungserleichterungen seitens der VG Wort könnten indes nur beachtet werden, wenn sie hinreichend sicher sind.
Wie lassen sich Haftungsrisiken vermeiden?
Eine positive Fortbestehensprognose besteht nur dann, wenn innerhalb des regelmäßig zwölf bis 24 Monate umfassenden Prognosezeitraums mit überwiegender Wahrscheinlichkeit – also mehr als 50 Prozent – die Zahlungsfähigkeit aufrechterhalten werden kann. Die Grundlagen und das Ergebnis der Fortbestehensprognose sollten sorgfältig dokumentiert werden, um späteren Vorwürfen einer Insolvenzverschleppung begegnen zu können und persönliche Haftungsrisiken zu vermeiden.
Die zweite Möglichkeit zur Überwindung einer insolvenzrechtlichen Überschuldung beruht darauf, dass gewisse Verbindlichkeiten anders als in der Handelsbilanz in einem Überschuldungsstatus nicht berücksichtigt werden müssen. Das taugliche Instrument hierfür ist ein Rangrücktritt von bestimmten Verbindlichkeiten, der, wenn er denn wirtschaftlich erreichbar ist, aus rechtlichen und steuerlichen Gründen sorgfältig formuliert werden muss.
Weiterer Insolvenzgrund ist die Zahlungsunfähigkeit. Zahlungsunfähig ist in der Regel, wer über einen Zeitraum von drei Wochen mehr als zehn Prozent seiner fälligen Verbindlichkeiten nicht begleichen kann. Auch hierfür muss ein Finanzplan erstellt werden. Liegt im vorstehenden Sinne Zahlungsunfähigkeit vor, ist im nächsten Schritt zu prüfen, ob kurzfristig Liquidität, etwa durch Kreditaufnahme oder Veräußerung von Gegenständen, erreicht werden kann.
Schlussbemerkung
Das Urteil des BGH hat für die Verlage in Deutschland weitreichende Folgen. In Zukunft fallen im Einzelfall wesentliche Einnahmen bei den Verlagen weg. Zudem müssen sich die Verlage damit beschäftigen, wie handelsrechtlich im Rahmen der Jahresabschlusserstellung mit der Situation umzugehen ist, dass bereits seit dem Jahr 2012 erhaltene Gelder wieder an die Verwertungsgesellschaften zurückgezahlt werden müssen. Hier ist insbesondere die Frage der Rückstellungsbilanzierung von Bedeutung.
Auch wenn die Entscheidung des BGH – im Nachgang zu der vorangegangenen EuGH-Rechtsprechung – nicht mehr ganz unerwartet für den einen oder anderen Verlag gekommen sein mag, so sind die Folgen weitreichend bis existenzbedrohend. Gegebenenfalls hat das Urteil auch eine Insolvenzantragspflicht ausgelöst. Vor allem mit Blick auf die Bedienung der Zahlungsansprüche, die die VG Wort gegen die Verlage nunmehr geltend machen wird, muss eine für alle Parteien vertretbare Lösung gefunden werden.
Den einzelnen, vor allem kleineren, Verlagen muss die Möglichkeit gegeben werden, ihr Geschäftsmodell anzupassen und sich auf die veränderte Situation einstellen zu können, bevor erhebliche, liquiditätswirksame und auf einmal fällige Rückforderungen die Existenz des Verlags vernichten.
Weiterführende Links zum Thema
Die Begründung des Bundesgerichtshofs, in einer ausführlichen Analyse von Börsenvereinsjustiziar Christian Sprang:
boersenblatt.net/1141624/
Hintergründe und Details zu den beiden Verfahren beim BGH und beim EuGH:
boersenblatt.net/1052298/
Der Verteilungsplan der VG Wort sieht in Paragraf 6 eine Regelung vor, die eine nachträgliche Korrektur der Verteilung auf kollektiver Ebene ermöglicht und auf deren Grundlage auch etwaige Rückforderungen und Nachzahlungen abzuwickeln sind.
Abrufbar unter dem Kurzlink http://bit.ly/1ZAuwgN.