Thalia-Chef Michael Busch zur digitalen Plattform Tolino

"Offen für weitere Partner aus dem Buchhandel"

1. März 2013
von Börsenblatt
Die Branche diskutiere die falschen Themen. Statt sich weiter der Groß-Klein-Debatte hinzugeben, sei es höchste Zeit, sich gemeinsam gegen die großen internationalen Player aufzustellen. Die soeben in Berlin vorgestellte Plattform Tolino (Foto von der Pressekonferenz oben) trete an, zum Synonym für digitales Lesen im gesamten deutschsprachigen Raum zu werden. Markterweiterung inklusive. Das sagt Thalia-Chef Michael Busch im Exklusivinterview mit Börsenblatt online.

Herr Busch, was macht der Buchhandel in Deutschland falsch, dass es ihm nicht besser geht?
Wir schauen viel zu viel auf das Hier und Jetzt und diskutieren aus dem Tagesgeschehen heraus. So verpassen wir die Zukunft. Ich denke, es ist angebracht, uns stattdessen zu fragen, was denn die letzten Jahrzehnte im Buchhandel passiert ist. Was können wir aus dem, was geschehen ist und was derzeit geschieht, für das Geschäft von morgen lernen?

Was zeigt sich für Sie in dieser historischen Perspektive?
Bis Ende der siebziger Jahre hatten wir eine total fragmentierte Branche. Dann folgte eine erste Phase der Konsolidierung. Es bildeten sich regional stärkere Filialstrukturen aus, und in zentralen Innenstadtlagen entstanden erste Großflächen. Schnell entwickelte sich eine gefühlte Polarisierung: hier die großen Filialisten und dort die vielen kleinen Händler, die unter der Expansion der Großflächen „brutal“ gelitten haben. Während die Branche hingebungsvoll bis heute über Groß und Klein diskutiert, ist die eigentliche Konsolidierung an anderer Stelle passiert: Amazon konnte widerstandslos von einem ABC-Bücherdienst mit zwei Millionen Umsatz im Jahr zum absoluten Branchenplayer mutieren – ohne eine einzige Buchhandlung zu eröffnen.

Dazu kommt, dass die Großen ihre Flächenträume begraben. Sie bauen zurück – und hinterlassen mancherorts nun eine Wüste, wo es vor ihrer Expansion noch buchhändlerische Infrastruktur gab.
Mit diesem Mythos sollten wir langsam mal aufräumen. Insgesamt geben Thalia, Hugendubel und die Mayersche vielleicht 30 Standorte auf. Das ist statistisch bei der flächendeckenden Versorgung, die wir nach wie vor haben, fast nicht relevant und schon gar keine Wüste. Im Übrigen finde ich es scheinheilig, dass zum Teil diejenigen die Expansion der Filialisten anprangern, die nach demselben Muster lokal  bzw. regional vorgehen und es längst sehr eigennützig und erfolgreich anwenden. Das ist eine Moraldebatte, die unsere Branche mit Leidenschaft führt, ohne dass sie irgendwen einen Deut weiterbrächte.

Hat sich in der Phase der Konzentration die buchhändlerische Qualität verschlechtert?
Im Gegenteil. Wir haben mehr Titel in den Läden sichtbar gemacht. Die Erreichbarkeit für Kunden wurde verbessert. Der Versorgungsgrad wurde erhöht. Und jedenfalls bei Thalia gibt es auch im Vergleich zum lokalen Buchhandel einen enorm hohen Anteil loyaler Kunden, die besonders die Beratung unserer Buchhändlerinnen und Buchhändler schätzen.

Zeitgleich zu den Verschiebungen im stationären Buchhandel wanderte viel Umsatz ins Internet.
Ja, 15 bis 20 Prozent sind ins Internet gegangen. Das hat die kleineren Händler in einem ungleich höheren Maße Marktanteile gekostet als unsere Expansion. Die DBH und wir haben aus dem Markt, wenn man die Übernahmen rausrechnet, vielleicht 250 Millionen Euro Jahresumsatz absorbiert. Amazons hat aber 1,5 Milliarden Euro Buchumsatz aus dem Markt gezogen. Das Sechsfache! Das ist der Kern der Krise. Gejammert wurde lange Zeit aber nur über „die Filialisten“. Das war in keiner Weise zukunftsgerichtet.

Worauf wollen Sie hinaus?
Mich erinnert die Situation des Buchhandels fatal an die Kleinstaaterei in Deutschland bis tief ins 19. Jahrhundert. Da wurde ein großes Land mit großer Bevölkerung zum Spielball fremder Mächte.

Bis Bismarck kam?
Es geht hier nicht um Personen, sondern um den großen Zusammenhang. Zu einem wirklich handlungsfähigen Spieler wurde Deutschland in der Tat erst aus dem Nukleus eines wiedererstarkten Preußens und einiger weniger Länder heraus.

Die fremden Mächte des Spielballs Buchhandel sind schnell aufgezählt: Apple und Amazon.
Latent auch Google und Facebook. Alle vier Unternehmen haben Eigenschaften, die ihnen jederzeit einen Markteintritt erlauben: Sie haben eine starke Marke, sie haben viele Kundendaten, sie haben Technologiekompetenz, und sie haben enorm viel Geld. Heutzutage muss daher jeder von uns überlegen, wo seine strategische Ausrichtung und sein strategisches Interesse liegen und welche Partner dafür die richtigen sind, um sich gegenüber den mächtigen amerikanischen Online-Giganten zu behaupten. In der gemeinsamen Entwicklung tragfähiger nationaler Lösungen gerade im digitalen Bereich sehe ich riesen Chancen für jeden von uns.

Um welche Lösungen geht es denn konkret?
Unsere Antwort auf die Herausforderungen der Digitalisierung liegt in einer Kooperation über klassische Branchengrenzen hinweg. Auf diese Weise können wir gemeinsam neue Wege einschlagen, statt dass jeder für sich auf der Stelle tritt und wir uns am Ende überholen lassen. Jetzt gilt es, Fachkompetenzen zu bündeln, um dem Kunden das bestmögliche Konzept beim eReading anbieten zu können. Mit der Kooperation aus deutschem Buchhandel und der Telekom schaffen wir eine echte Alternative mit einem offenen System, flächendeckender Distribution und persönlicher Beratungskompetenz.

Den Befund, dass die Gefahr aus dem Westen kommt, haben Sie schon vor zweieinhalb Jahren erhoben. Ihre Antwort damals: eine europäische Readergemeinschaft im Namen Oyos. Was ist an dem Bündnis, das Sie heute Morgen in Berlin verkündet haben, entscheidend anders? Was macht die digitale Plattform unter der Marke Tolino schlagkräftiger als seinerzeit den Oyo?
Immer wichtiger wird in Zukunft das Thema Cloud-Services – auch im Zusammenhang des digitalen Lesens. Wir möchten den Kunden grenzenloses Lesen bieten. Inhalte sollen – unabhängig von Ort und Device – erreichbar sein. Hier kann der Tolino mit seinem offenen System absolut punkten. Alle fünf Partner – Thalia, Hugendubel, Weltbild, Club Bertelsmann, Deutsche Telekom – bringen ihre spezifischen Kompetenzen ein. Die digitale Plattform baut auf der hochentwickelten Cloud-Infrastruktur der Deutschen Telekom auf.  Gekaufte Inhalte werden in der Telekom-Cloud kostenlos dauerhaft gespeichert – somit ist der Zugriff auf die eBooks nicht nur vom Tolino, sondern auch von weiteren Endgeräten aus möglich.

Wie wollen Sie den Tolino als Marke auf das Bekanntheitsniveau des Kindle bringen?
Wir starten eine umfassende TV-Werbekampagne. Die beginnt am 8. März und geht bis Ostern. In der Folge wird es weitere Aufschläge von diesem Format geben. Dabei kommunizieren wir den Tolino ganz bewusst als eReader der führenden deutschen Buchhändler. Der Tolino wird parallel vertrieben von Thalia, Weltbild, Hugendubel und dem Club Bertelsmann und wird damit ab sofort in 1.500 Fachgeschäften der beteiligten Händler und in deren Online-Shops flächendeckend sichtbar und verfügbar sein. Kunden können außerdem auch die 11.000 Hotspots der Telekom in Deutschland kostenfrei nutzen.

Hardware-Entwicklung ist komplex und geht schon mal schief. Wie läuft das beim Tolino?
Das Gerät und das technische Ökosystem hat die Deutsche Telekom federführend entwickelt, und wir Buchhändler haben unser Buchbranchen-Know-How und das Wissen über die Lesebedürfnisse unserer Kunden ebenso wie die Inhalte-Kompetenz einfließen lassen.  Alle Partner haben ihren Teil zu einer hochwertigen Entwicklung beigetragen – also wirklich „the best of all“ zusammengeschmolzen. Das ist die Antwort, die es im deutschen Buchhandel braucht – und kein Klein-Klein. Es geht darum, in der digitalen Zukunft überhaupt noch dabei zu sein. Wir, die Partner, möchten, dass die Zukunft des deutschsprachigen Buchhandels auch weiterhin bei den nationalen Playern und nicht in den Händen mächtiger amerikanischer Online-Giganten liegt.

Was hat der Tolino dem bereits gut eingeführten Kindle voraus?
Tolino ist die sympathische deutsche Marke, die künftig als Synonym für digitales Lesen, schnelle Verfügbarkeit und einfachste Handhabung steht. Der Kunde bindet sich nicht an ein proprietäres System. Außerdem wird er seine einmal gekauften Bücher nicht verlieren, wenn er irgendwann ein Konto kündigt. Er wird sie, egal wo sie gekauft wurden, in seinem digitalen Bücherregal behalten. Und wir erleben mit dem Tolino eine weltweite Premiere: Das erste Mal wird in dieser Größenordnung eine digitale Plattform für einen gesamten Sprachraum flächendeckend etabliert.

Apropos Offenheit: Wer außer den fünf Tolino-Partnern darf mitmachen?
Die Allianz wird in einer nächsten Phase nach der Einführung offen sein für weitere interessierte Partner aus dem Buchhandel. Jeder, der einen gewissen Qualitätsanspruch gegenüber dem Kunden erfüllt, kann prinzipiell dabei sein. Uns war für den Start allerdings wichtig, dass wir nicht mit zu vielen Partnern an einem Tisch sitzen. Sonst wird ein Projekt von dieser Komplexität schnell zerredet. Aber die Offenheit in Richtung Kunden und in Richtung des deutschsprachigen Buchhandels ist im Nukleus dieser Kooperation genetisch verankert.

Denken Sie schon an eine internationale Ausweitung der Allianz, so wie seinerzeit beim Oyo?
Jetzt denken wir erst einmal an die erfolgreiche Markteinführung mit den Partnern, die das Projekt auf die Beine gestellt haben.

Der Launch fällt in eine Zeit, in der erstmals eine breite kritische Debatte um Amazons Geschäftsgebaren läuft. Spielt Ihnen das in die Karten?
Ich halte nichts von Amazon-Bashing. Die gegenwärtige Diskussion wird, wie immer, auch tendenziös von der Presse befeuert. Da bin ich weit entfernt von Häme. Allerdings muss man sich darüber Gedanken machen, ob es richtig sein kann, dass viele öffentliche Institutionen hierzulande, die mit deutschem Steuergeld bezahlt werden, als ersten oder alleinigen Lieferanten ein Unternehmen haben, das in Deutschland bekanntlich kaum Steuern zahlt; das also, mit anderen Worten, versucht, aus einem Land eine Wertschöpfung herauszuziehen und zugleich so wenig wie möglich diesem Land zurückzugeben. Die Unternehmen in der Tolino-Kooperation zahlen alle ihre Steuern in Deutschland. Und keiner umgeht das mit einem Luxemburger Modell.

Wenn Sie erfolgreich sind mit tolino, wird das dem digitalen Bücherlesen in Deutschland Auftrieb geben. Glauben Sie an eine Markterweiterung, oder geht das alles auf Kosten des Print-Geschäfts?
Ich bin von einer Markterweiterung überzeugt. Das ganze Projekt reagiert ja auf ein Kundenbedürfnis und eine Veränderung des Kundenverhaltens. Ich glaube in der Tat, dass bestimmte Zielgruppen mit digitalen Büchern stärker zu erreichen sind als mit dem physischen Buch und dass der Tolino das digitale Lesen in Deutschland weiter beleben wird. Er bietet die Chance für den stationären Buchhandel, diese Kunden bei der eigenen Marke zu halten. Ich glaube auch, dass man im digitalen Bereich öfter und schneller mal ein Buch kauft und es vielleicht dann gar nicht liest. Ein nicht gelesenes E-Book macht einem nicht so rasch ein schlechtes Gewissen wie ein nicht gelesenes gedrucktes Buch, weil man es nicht sieht. Nichts desto trotz wünschen wir und natürlich, dass die Bücher, die wir verkaufen, möglichst viele und begeisterte Leser finden.

Die Zukunft Thalias liegt also in der digitalen Welt?
Auch, aber eben nicht nur. Bei aller Digitalisierung und virtuellen Vertriebswege bleiben unsere tollen Läden und im Besonderen unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihrem Engagement und ihrer Kompetenz das Rückgrat Thalias. Mit ihren unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten sind sie unser vielfältiges Gesicht zu den Kunden. Denn am Ende ist eine gute Kundenbeziehung die Basis unseres Handelns und auch genau das, was uns zuversichtlich und entschlossen in die Zukunft blicken lässt.