Tobias Gohlis über Spannungsliteratur in den Feuilletons

Geschmacksbildend

30. Mai 2018
von Börsenblatt
Spannungsliteratur hat im klassischen Feuilleton einen schweren Stand. Für Tobias Gohlis ist die Krimibestenliste deshalb so wichtig: Sie rückt Titel in den Blick, die Leser und Händler sonst wohl nicht finden würden.

Ich bestreite meinen Lebensunterhalt als Literaturkritiker, genauer gesagt: als Krimikritiker. So jemanden um eine wahrheitsgemäße Antwort zu bitten, "welche Rolle das Feuilleton bei der Vermittlung von Kriminalliteratur überhaupt noch spielt und inwieweit die Presse dem Buchhandel noch ­Orientierung bietet", kommt der Aufforderung zum öffentlichen Selbstmord gleich. Die erste Antwort ist: fast keine.

"Das Feuilleton" hat bei der Vermittlung von Kriminalliteratur immer schon eine marginale Rolle gespielt, auch wenn es hier leichte Verschiebungen gibt. Nach Leugnung, Nichtanerkennung, Denunziation als formelhaft und minderwertig sind wir jetzt im Stadium der Einkästelung: Dem Krimi wird in den "Qualitätsmedien" eine Kolumne oder ein anderes stilles Eckchen zugestanden. Ganz selten nur – vornehmlich im öffentlich-recht­lichen Rundfunk – wird Kriminalliteratur nicht als Sonderfall, Genre oder Abart, sondern schlicht als besprechenswerte Literatur behandelt. Einen anderen, meiner Kenntnis nach im deutschsprachigen Feuilleton einzigartigen Weg, schlägt die "FAZ" ein, die sich monatlich eine ganze Seite zur Kriminalliteratur leistet, auf der versucht wird, verschiedene Ausformungen der Gattung und unterschiedliche Rezeptionsniveaus anzusprechen.

"Das deutschsprachige Feuilleton" ist allerdings auch nur in beschränktem Maß dazu imstande, Kriminalliteratur wahrzunehmen. Das hat damit zu tun, dass Kenntnis oder gar Leidenschaft für so etwas genrehaftes wie Krimi nicht zur Qualifikationsanforderung an einen Literaturkritiker gehört. Weshalb der Standard-Feuilletonist, wenn er schon mal einen Krimi bespricht, meist gar nicht imstande ist, Krimis anders als nach den überholten Standards seiner länger zurückliegenden akademischen Ausbildung zu beurteilen – etwa nach dem weitverbreiteten und meines Wissens heute noch benutzten Krimihandbuch von Peter Nusser, das auf dem Wissens- und Kenntnisstand der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts dem Krimi eine "Regelhaftigkeit" attestiert, die kaum mehr in den schlichtesten Formen dieses Genres exis­tiert. Weshalb Kriminalromane oft mit einer an Agatha Chris­tie geschulten Perspektive gelesen und, sofern es sich um modernere Produkte handelt, gründlich missverstanden werden.

Trotzdem leistet die auf Kriminalliteratur spezialisierte Kritik Beträchtliches. Nicht in der Beeinflussung der Orderentscheidungen des Buchhandels, wohl aber in der Geschmacksbildung der Leser, die die Buchhändler ja auch sind. Mit aller gebotenen Bescheidenheit: Die 2005 von mir ins Leben gerufene, seit 2017 von der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" und dem Deutschlandfunk Kultur herausgegebene Krimibestenliste ist an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig, sondern hat sie vorangetrieben und gebündelt. Die monatlichen Empfehlungen unserer zurzeit 19-köpfigen Jury aus Kritikern aus den drei deutschsprachigen Ländern richten den Fokus auf eine Kriminalliteratur, die thematisch und ästhetisch den Anforderungen der Zeit entspricht: unangepasst, spielerisch und stereotypenfrei. Ob "Roman", "Thriller" oder "Kriminalroman" auf dem Umschlag steht, spielt keine Rolle. Entscheidend ist die Monat um Monat neu ausgehandelte literarische Qualität.

Was das für Buchhandel und Verlage bedeutet, sei an einigen Beispielen skizziert. Die großartige Sozialrealistin Dominique Manotti (aus der Ariadne-Reihe bei Argument), die amerikanischen Country-Noir-Autoren Daniel Woodrell und Donald Ray Pollock (Liebeskind), der Japaner Hideo Yokoyama (seit Januar bei Atrium, Auflage: 25.000 Exemplare) – sie alle wären ohne die anregende Wirkung der Krimibestenliste wohl kaum einem breiteren Publikum bekannt. Es gibt ein Lesen jenseits von Agatha Christie, Donna Leon und Henning Mankell. Und Leser, die mithilfe kluger Buchhändler und Kritiker diese tollen Bücher entdecken.

Tobias Gohlis ist Literaturkritiker mit Schwerpunkt Krimikritik und Jurysprecher der Krimibestenliste von "FAS" und Deutschlandfunk Kultur.