Transmediales Erzählen

"Die Geschichte entsteht im Kopf des Spielers"

5. Oktober 2011
von Börsenblatt
Nicht Spiel, nicht Film, nicht Geschichte – doch alles gleichzeitig: Im "Roten Salon" der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin wurde am 4. Oktober die intermediale living novel "TwinKomplex" vorgestellt.

Wer den Schauspielern Irm Hermann und Christian Brückner begegnen möchte, kann ab Mitte November auf die Website www.twinkomplex.com gehen. Besteht er dort den Eingangs-Psychotest, ist er als Charakter "gecheckt" und damit in die DIA – die Digital Intelligence Agency, eine Vereinigung für alles Gute in der Welt – aufgenommen. Wenige Stunden darauf wird er mit drei anderen Mitgliedern vernetzt sein, um mit ihnen gemeinsam einen fiktiven Fall zu lösen, dessen Fortgang und Lösung die Gruppe interaktiv mit einem im Hintergrund anonym tätigen Autorenteam entwickeln wird. Falsche Fährten, verwirrende Filmsequenzen, hilfreiche Botschaften werden dabei eine Rolle spielen, aber auch das ganz alltägliche eigene Leben mit seinen Fragen, Grenzen und Möglichkeiten. Nach einer Woche des casual gaming (gelegentlichen Spielens, zum Beispiel eine halbe Stunde am Tag) ist der Fall gelöst, dann wird neu gemischt, und wer sich profilieren mag, kommt auf höhere Levels.

Dieses neue, für alle offene und kostenfreie computer-basierte Spiel war dem Berlin-Brandenburger Filmförderer medienboard 100.000 Euro wert; ein Hamburger Sponsor legte ein Vielfaches drauf, damit das inzwischen rund 20-köpfige internationale Team um den promovierten Kulturwissenschaftler und Philosophen Martin Burckhardt diese intelligente Form des Spielens, Entwickelns und Reflektierens des story telling, das Lust und Kritikfähigkeit bei den Usern herausfordern soll, zur Reife bringen konnte.

Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion sollen verschwimmen

Gängige Strategiespiele wie "League of Legends" oder Weiterentwicklungen wie "Grand Theft Auto" lassen für die freie Entwicklung einer Geschichte keinen Raum, sondern greifen auf vorgegebene Handlungsmuster zurück. Nicht umsonst trägt im Gegensatz dazu "TwinKomplex" den Untertitel living novel – in Anspielung an das Konzept des living theatre: Auch bei "TwinKomplex" sollen Leben und Spiel sich verquicken, können die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen. Indem sich die virtuelle Spielergemeinschaft und das Autorenteam in völliger Denkfreiheit einer nicht vorgegebenen Lösung ihrer Geschichte nähern, können auch ganz reale Aspekte des Lebens ins Spiel kommen und Bedeutung für die Story gewinnen: Inspirationen aus dem Alltäglichen, objets trouvés, die Notizen im Heft eines Drittklässlers, medizinische Diagnosen, akute zeitgenössische Fragen. So nutzte das entwickelnde Team das leer stehende Areal des Flughafens Berlin-Tempelhof als filmische Plattform, befruchtend auch fürs Erzählerische.

Autorengruppenprojekte gibt es schon seit Langem – man denke etwa an den "Roman der Zwölf", den 1909 eine Gruppe von Kabarettautoren um Hanns Heinz Ewers verfasste – aber bei "TwinKomplex" ist die Autorengruppe gewissermaßen grenzenlos; auf der Website kann sich die vernetzte Menschheit zwischen Englisch und Deutsch entscheiden, die spanische Sprachversion ist angedacht. Finanziell selbsttragend, so Burckhardt, wird das Projekt, wenn von 100.000 Nutzern ca. 10 Prozent für Spielwerte wie höheres Level oder schnellere Informationen innerhalb des Spiels bare Münze zahlen.

Ist das Ganze nun eine Geschichte oder ein Spiel? Schwer zu entscheiden: Javier Krawietz Rodríguez aus dem Team erklärt: "Die Geschichte entsteht zwischen den verschiedenen Medien – im Kopf des Spielers." Und Martin Burckhardt betont: "Die Kommunikation wird zum Spiel- und Erzählprinzip." Als Medienwissenschaftler hat Burckhardt sich auch publizistisch der Frage gewidmet, "was Maschinen mit Menschen machen". Jetzt fasziniert ihn, "was passiert, wenn man Raum hat, wenn zum Beispiel nicht wie beim Fernsehen ein Film in vorgegebene Formate hineinpassen muss."

Ende der Autorschaft?

Dass ein solcher Spielraum, der lediglich einen Rahmen für die Entfaltung persönlicher Freiheit und Dialogmöglichkeit vorgibt, ungeheure Kreativität freisetzt, weiß jeder mit Kommunikation Befasste. Ob "TwinKomplex" allerdings die Auflösung des traditionellen Modells der Autorschaft bedeutet, wie Burckhardt meint, ist zu bezweifeln: Sicher ist es ein Sprengkraft besitzendes Alternativmodell; die mit der Erzählerfigur ironisch spielende Genialität eines Cervantes etwa wird es jedoch kaum aufheben, sondern eher noch verschärft hervortreten lassen.