Ulrike Rodi über Enthusiasmus und Enttäuschung bei Manuskripten

Eine große Wundertüte

26. Januar 2017
von Börsenblatt
Aus der Manuskriptflut die wirklich starken Spannungsgeschichten herauszufiltern – dieser Prozess steckt für Verleger und Lektoren voller Überraschungen. Ulrike Rodi über Enthusiasmus und Enttäuschung.

Vor einigen Jahren habe ich an einem Symposium teilgenommen. Ein Verlegerkollege, der dem Forum Rede und Antwort stehen musste, wurde gefragt: "Nach welchen Kriterien suchen Sie Ihre Autoren aus?" Kurz war zu erkennen, wie es in dem Kollegen arbeitete. Dann die Antwort: "Ich gucke mir die Fotos an." Ich grüble immer noch darüber nach, warum damals nicht jeder den Scherz verstanden hat. Bin aber nun stets versucht, wenn mir diese Frage gestellt wird, zu antworten: nach dem Aussehen. Das ist natürlich Quatsch. Zumal den wenigsten Angeboten Porträtfotos beiliegen.

Doch was ist es dann? Uns erreichen jährlich mehr als 500 Manuskriptangebote. Das waren mal mehr, als der Krimimarkt noch nicht so riesig war und es Selfpublishing noch nicht gab, aber es sind immer noch viele. Zum großen Teil schreiben uns die Leute direkt an, der Rest erreicht uns über Agenten, Tendenz steigend. Und dann sitzt man da vor dem Papierstapel mit Anschreiben, Exposé und Text oder klickt sich durch die Dateien.

Es ist jedes Mal, als würde man eine Wundertüte öffnen: Wovon will mir dieser Mensch etwas erzählen? Hat er überhaupt etwas zu erzählen? Kann er einen Plot entwerfen, sich ausdrücken, hat er womöglich schon eine eigene Schreibe, kann Charaktere (weiter-)entwickeln, Spannungsbögen aufbauen?

In 90 Prozent der Fälle lässt sich schnell zu viel verneinen, aber dann gibt es da diese Leseerfahrung: "Das hier hab ich bis zum Schluss gelesen …!" Ja, so enthusiastisch geht es bei uns zu, wenn Manuskripte sich der zweiten, womöglich auch einer dritten Meinung stellen dürfen.

Die Wundertüte öffnet sich weiter: Wie ist denn jetzt wohl der Mensch, der hinter dem Roman steckt? Die erste Kontaktaufnahme, in der Regel telefonisch. Wir einigen uns, es folgt das übliche Hin und Her, bis Titel, Cover und Vorschautext stehen. Nun kennen wir nicht nur die Stimme, sondern haben, wenn wir uns nicht schon persönlich getroffen haben, zumindest auch ein Foto. Hm, hätte der Kollege von damals denjenigen genommen?

Die Zusammenarbeit hat also längst begonnen, und auch die Arbeit am Text schreitet voran. Wir lernen uns besser kennen und ich überlege: Vielleicht sollte nicht nur das Aussehen eine Rolle spielen, sondern auch eine Eignungsprüfung, ob unsere Temperamente kompatibel sind. Art und Form des Anschreibens und auch der Roman ließen doch gar nicht erkennen, dass wir es mit einer solchen Umstandskrämerin zu tun bekommen. Und war eigentlich abzusehen, dass jener Autor ein Choleriker ist? Ist sein Protagonist ja auch …

Mir kommen selbst schon mörderische Gedanken. Doch dann ist das Buch fertig. Wir sind jetzt wirklich enthusiastisch: Die Geschichte ist originell und gut erzählt, kein Wiederkäuen von schon mal Dagewesenem, und mal wieder erweist sich, wie gut ein Krimi geeignet ist, auf unterhaltende Weise den Fokus auf gesellschaftliche Problemfelder zu richten.

Und ich bin froh, dass ich erneut einen höchst interessanten Menschen kennenlernen durfte – auch wenn wir vielleicht immer noch kein gutes Foto von ihm haben. Mal sehen, welche Wundertüte sich als Nächstes öffnet …