Wenn Kunden plötzlich zu Buchhändlern werden

Statt eines Buchs die ganze Buchhandlung im Warenkorb

24. Mai 2017
von Christina Busse
Buchhändler, die einen Nachfolger fürs Geschäft suchen, werden manchmal auch im eigenen Kundenkreis fündig. Kann eine solche Übernahme wirklich gut gehen? Aber sicher! Fünf Beispiele.

"Eigentlich wollte ich nur ein Schulbuch für meine Tochter kaufen", erzählt Susanne Neumann – "da hat mir Herr Gerlach plötzlich die Übernahme seiner Buchhandlung angeboten." Neumann, gelernte Bibliothekarin und seit Jahren Stammkundin im Geschäft, hörte auf ihr Bauchgeühl und entschied sich innerhalb von wenigen Tagen, die Chance für einen beruflichen Neuanfang zu nutzen. Sie prüfte die Zukunftsperspektive – und ist seit Juli 2016 Inhaberin der Gutenberg-Buchhandlung in Eberswalde.

Statt eines Buchs gleich die ganze Buchhandlung im Warenkorb? Kein Einzelfall. Oft ist der Wunsch nach beruflicher Veränderung die treibende Kraft. In der Buchhandlung Lesensart in Dresden (65 Quadratmeter) fand bereits der Ausverkauf statt, nachdem Inhaber Frank-Ulrich Harzmann ein Jahr lang vergeblich einen Nachfolger gesucht hatte. Nur eine Woche vor der geplanten Schließung kam er im Laden mit René Hasler ins Gespräch. Für Harzmann, der mit 66 Jahren in den Teilruhestand gehen wollte "ein Glücksfall": Denn Hasler, offen für einen Wechsel, tauschte nach kurzer Bedenkzeit seine Festanstellung in der Chemieindustrie gegen die Buchhandlung ein, die er seit fünf Jahren aus Kundensicht kannte. Seine Motivation: "ein interessantes Arbeitsfeld, Kontakt zu vielen Menschen und eine tolle Lage!"

Schon seit Studienzeiten hatte die Germanistin Britta Karadzole (40) den Traum von der eigenen Buchhandlung im Hinterkopf. Während sie im Marketing eines Naturtextilien-Unternehmens arbeitete, lernte die Mutter zweier Kinder die Stadtteilbuchhandlung Lesezeichen in Darmstadt kennen und lieben: "Die Kinderbuchabteilung hat mich überzeugt, die kompetente und freundliche Beratung, die Wohlfühlatmosphäre." Dabei setzte sich ein Gedanke fest, den sie mehrfach durchspielte: "Was wäre, wenn es meine Buchhandlung wäre?" Die "Schnapsidee", wie sie es nennt, reifte weiter heran, als der Kontakt zu Inhaberin Iris Masuthe (50), die das Geschäft 2004 gegründet hat, über gemeinsame Freunde enger wurde. Karadzole schlug vor: "Ich kündige meinen Job, wenn ich Teil des Lesezeichens werden darf." Drei Monate später, im Januar 2016, gründeten die beiden Frauen eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), die sie zu gleichgestellten Gesellschafterinnen machte. "Für mich die Chance, mich voll in die Branche zu werfen", erzählt Karadzole begeistert.

Auch wenn die Idee spontan kommt – vor einer solchen Übernahme steht die gründliche Prüfung der Zahlen. Dabei haben die Existenzgründer nicht nur ihren künftigen Standort im Blick, sondern auch die Branche. Susanne Neumann hat sich an die IHK gewandt: "Sie hat mir geraten, mir die Zahlen der letzten drei Jahre vom Vorbesitzer zu besorgen. Zusammen haben wir alles geprüft und der IHK-Berater war positiv überrascht." Mit diesem Wissen klappt es auch besser mit der Finanzierung, denn die wenigsten Neugründer können auf ausreichendes Eigenkapital zurückgreifen. Die Beantragung eines Bankdarlehens ist manchmal ein steiniger Weg, ein Betriebsberater kann dabei Unterstützung leisten.

Die meisten Neueinsteiger sichern sich aber nicht nur bei der Bank, sondern auch bei der Familie ab: Sie sollte hinter den Plänen stehen. Denn auf Exis­tenzgründer kommt eine Menge Arbeit zu – oft mehr als erwartet und auch über die Einarbeitungszeit hinaus. Weitere Grundvoraussetzung für alle, die Mitarbeiter übernehmen wollen: Das Team im Laden muss mitziehen. "Wollt ihr den Weg mit mir gehen?", hat Neumann die fünf Angestellten gefragt. "Ohne sie hätte ich es nicht gemacht", ist sich die 54-Jährige sicher, "denn nur als Kunde, ohne buchhändlerisches Know-how, kann man keine Buchhandlung führen."

Bettina Balz (50), seit neun Monaten Inhaberin der Buchhandlung Stoll im fränkischen Weißenburg, war froh, dass ihr ihre Vorgängerin in der Anfangszeit aushilfsweise zur Seite stand. Eine Teilzeitkraft hat sie übernommen, und Balz weiß: "Sie ist absolut unersetzlich. Von ihrer 20-jährigen Erfahrung profitiere ich sehr."

Ist die Entscheidung zur Übernahme gefallen, geht es ins Detail. Kaufmännisches Know-how ist kein Muss, aber eine gute Voraussetzung. René Hasler etwa ist gelernter Groß- und Einzelhandelskaufmann und Betriebswirt, er brachte Erfahrung im Einkauf in unterschiedlichen Branchen mit. Wer wie Britta Karadzole technik­affin ist, geht entspannter mit Warenwirtschaft, Social Media und Homepage um, wer vorher Personalverantwortung hatte, kann ein Team führen, wer im Verkauf Erfahrung hat, ist serviceorientiert und weiß, wie Kunden ticken.

Doch die Buchbranche hat ihre Eigenheiten. Fast alle Quereinsteiger nutzen die vielfältigen Angebote von Börsenverein und Barsortimenten, um sich in Seminaren mit dem Buchhandel vertraut zu machen. Eine ihrer ersten Wege führte Susanne Neumann zu ihrem Landesverband. Auch das Barsortiment stand ihr während der Übernahme beratend zur Seite. "Man braucht auf jeden Fall Hilfe", so Neumann.

Bettina Balz ist dank langer Vorlaufzeit und intensiver Vorbereitung mit genauen Vorstellungen an den Start gegangen. Acht Monate lang hat sie in der Buchhandlung Stoll mitgearbeitet, bevor sie das Geschäft im September 2016 übernommen hat. "Außerdem habe ich Fachliteratur durchgeackert und Online-Schulungen bei Libri absolviert", erzählt die Diplom-Kauffrau, die bereits 15 Jahre lang das elterliche Unternehmen geleitet hatte und sich nach der ­Familienzeit beruflich neu aufstellen wollte. In ihrer neuen Buchhandlung fühlte sie sich als Mitglied der eBuch gut unterstützt.

René Hasler hatte im Vorfeld "ein bisschen Bammel", ob er den speziellen Fragen literarisch bewanderter Kunden gewachsen ist. Doch weil er durch seinen Vorgänger, den er auf 450-Euro-Basis angestellt hat, und erfahrene Vertreter beim Einkauf gut beraten wird, spielen die befürchteten Wissenslücken keine Rolle: "Die Kunden sind in erster Linie dankbar und freuen sich, dass es die Buchhandlung weiterhin gibt", staunt Hasler.

Diese Erfahrung kann Nicole Mat­tausch nur bestätigen. Die gelernte ­Bibliotheksassistentin sprang kurzfris­tig ein, als die Buchhandlung in ihrem schwäbischen Heimatort mangels Nachfolge schließen sollte. Nach zwei Wochen Einarbeitungszeit übernahm sie im Juli 2016 die Steinbronner Buchhandlung, renovierte die 50 Quadratmeter Verkaufsfläche und bekam bei der Wiedereröffnung von den Kunden nur positive Rückmeldungen: "Alle sind froh, dass es weitergeht."

Mit Fingerspitzengefühl gehen die Neueinsteiger mit den Erwartungen der Kunden an die neuen Inhaber um. Sie müssen abwägen zwischen Tradition und Vertrautem auf der einen Seite – und frischem Wind und modernerem Erscheinungsbild auf der anderen Seite.  René Hasler betont: "Mein Tenor gegenüber den vielen Stammkunden: Wir bleiben eine Stadtteilbuchhandlung mit literarischem Profil."

Die Existenzgründer wollen nicht das Rad neu erfinden – schließlich haben sie sich im Vorfeld davon überzeugt, dass die Buchhandlung gut läuft. Sie wollen erst einmal ein Gespür dafür ent­wickeln, was geht. "Ich will fest im Sattel sitzen, bevor ich Veränderungen vornehme", nahm sich Hasler kurz nach der Übernahme vor. Mittlerweile hat er die Buchlaufkarten abgeschafft und ein Warenwirtschaftssystem eingeführt. Im Laden gibt es einen neuen Tresen und neue Regale, Hasler hat den Kinderbuchbereich ausgebaut, eine Homepage mit Onlineshop installiert und stellt ­Bilder von regionalen Künstlern in der Buchhandlung aus. Dass Vorgänger Harzmann weiter im Laden präsent ist, sorge trotz aller Neuerungen für einen "weichen Übergang", so Hasler.

Ein heikler Punkt ist die Firmenbezeichnung. Für Bettina Balz stand von vorneherein fest, dass der Name der Buchhandlung Stoll unangetastet bleiben sollte: "So einen Namen, der seit 1858 etabliert und in den Köpfen verankert ist, gibt man nicht auf", sagt sie. Nicht nur ihre eigene Familie kauft bereits in dritter Generation dort ein. Trotzdem hat sie den 80 Quadratmetern Verkaufsfläche ein neues Gesicht gegeben – Teppichboden und Beleuchtung wurden erneuert, die Schaufenster geöffnet, die Möblierung ist "aufgeräumter". Hinzu kommen Sitzgelegenheiten, Kaffee und eine kleine Auswahl an Non-Books, die es sonst in der Region nicht gibt. "Das Geschäft sieht heute ganz anders aus. Doch sogar die Stammkunden haben positiv auf den Umbau reagiert", berichtet sie.

In der Buchhandlung Lesezeichen in Darmstadt kommt der frische Wind, den die neue Mitinhaberin hereinträgt, ebenfalls gut an. "Wir haben die zweistündige Schließung über Mittag gestrichen und die Hälfte der Fläche neu möbliert. 2016 haben wir einen sehr guten Umsatz verzeichnet", berichtet Karadzole.

Nach gut neun Monaten im Geschäft, will jetzt auch Susanne Neumann ihre 75 Quadratmeter große Verkaufsfläche im Erdgeschoss einer zentral gelegenen Einkaufspassage von Eberswalde neu gestalten. Sie will einiges investieren, um die Gutenberg-Buchhandlung in der knapp 40.000 Einwohner zählenden Kleinstadt in eine gute Zukunft zu führen. "Gerade habe ich mich im Rathaus beraten lassen", berichtet sie, "die Stadt bezuschusst Investitionen. Sie ist ja froh, dass die Buchhandlung weiterbesteht." Der Laden ist vor 23 Jahren eingerichtet worden. Neumann wünscht sich ein moderneres Ambiente, auch wenn sie weiß, dass die Macht der Gewohnheit besonders für die Kunden eine große Rolle spielt. "Früher war es anders", hört sie dann – selbst wenn nur ein Regal verstellt wurde.

Gleichzeitig hat sie dafür Verständnis, denn als langjährige Stammkundin ging es ihr genauso. Um sich Anregungen zu holen, nimmt sie in diesem Monat am Libri Campus in Bad Hersfeld teil. "Ich freue mich auf neue Impulse, neue Sichtweisen und Anregungen zur Verschönerung des Ladens", sagt sie. Im Vordergrund steht für sie nach wie vor der Kontakt zu den Kunden: "Menschen beraten, kommunizieren, im Gewusel stehen, das war schon immer meins." Seit der Übernahme hat sie Monat für Monat dazugelernt:  "Ich sollte nicht nur das einkaufen, was mir gefällt, denn die Kunden finden nicht unbedingt das Gleiche gut wie ich. Das muss ich akzeptieren und mich auf die Klientel einstellen." Ihre Sache macht Neumann offenbar gut, denn von den Kunden bekommt sie ein wunderbares Kompliment: "Wissen Sie, was für einen tollen Job Sie haben? Sie verkaufen Freude!"

Tipps für "Kunden-Buchhändler"
  • Gespräche mit der IHK, der Bank, den Landesverbänden des Börsenvereins und Betriebsberatern führen – dann werden Planung und Finanzierung leichter und realistischer.
  • Ist es sinnvoller, die komplette Buchhandlung und den Namen als Rechtsnachfolger mit allen Aktiva und Passiva zu übernehmen – oder an gleicher Stelle ein neues Sortiment zu gründen?
  • Reichen die bisherigen Kunden­gruppen aus? Und welche neuen Zielgruppen können gewonnen werden?
  • das eingespielte Team im Buchladen übernehmen – und "mitnehmen"
  • Quereinsteiger-Seminare besuchen
  • einer Erfa-Gruppe beitreten
  • Gerade ehemalige Kunden müssen den Rollenwechsel vom Buchkäufer zum Buchhändler auch innerlich vollziehen – und sollten nicht nur nach den eigenen Lesevorlieben einkaufen.
  • Wenn die Buchhandlung gut läuft, nicht auf einen Schlag alles verändern, sondern die Balance halten zwischen Bewahren und Erneuern. Denn Kunden sind oft konservativ und müssen sich erst nach und nach an den "frischen Wind" im Laden gewöhnen.