Zum 65. Geburtstag von René Strien

Mit Chuzpe

29. März 2018
von Börsenblatt
Von einem, der auszog, einen Verlag zu reformieren: René Strien, 20 Jahre lang Geschäftsführer bei Aufbau, wird heute, am 3. April, 65 Jahre alt: Es gratuliert Tom Erben, früher sein Mitstreiter.

Rene Striens Vermögen ist es, Geschichten so erzählen zu können, dass man ihnen nicht entkommen kann. War sein Vater wirklich Erfinder, wie er manchmal kolportierte – oder doch Sparkassendirektor in Solingen? Ist René als Bub wirklich durch Afrika und Südamerika getourt – oder hat er die Abenteuer in den Solinger Bergen ersonnen? Hat er tatsächlich Borges in einer Bibliothek in Buenos Aires kennengelernt? Spanisch spricht (und übersetzt) er fließend, es muss also was dran sein an den argentinischen Jahren. Aber hat er seine wissenschaftliche Karriere als Dozent aus Übermut beendet, oder mußte er ganz fix eine Familie ernähren? Rätsel über Rätsel … wie auch dieses: Wollte der Seniorverleger Gustav Lübbe den Junglektor, der sich mit einem persiflierten Jerry-Cotton-Heft beworben hatte, tatsächlich als Autor engagieren, weil er den Text für bare Münze nahm?

Ein unbeugsamer Visionär - oder ein magischer Realist?

Unzweifelhaft jedenfalls war dies der Einstieg René Striens ins Verlagsgeschäft, auch wenn er zuvor schon als Übersetzer für Suhrkamp gearbeitet hatte. Ich hege schon lange den begründeten Verdacht, dass bei René Striens Geschichten immer beide Seiten der Medaille wahr sind. Man frage ihn nach seinem Lieblingsbuch, die Antwort changiert von Cervantes' "Don Quijote" (dem er mit einem spitzbübischen Bart nachzueifern scheint) bis zu Jan Graf Potockis "Handschriften von Saragossa", dessen Titel sich daraus erklärt, dass sich das Werk in einem kurzen Vorwort des "Herausgebers" als ein altes Manuskript ausgibt, das Letzterer während der Napoleonischen Kriege in einem verfallenen Gebäude gefunden haben will. Ist Strien, diesem Helden folgend, ein unbeugsamer Visionär oder ein magischer Realist? Von allem ein wenig, möchte man meinen. Nie langweilig. Und von allem das Beste.

Bei Lübbe gründete er die "Schwarze Reihe" und mogelte mit großem Vergnügen abseitige aber großartige "Romans noirs" ins brave Verlagsprogramm. Der Kollege Reinhardt Rohn wurde zum Freund, den er später zu Aufbau holte. Aber zuvor hatte Bernd Lunkewitz den jungen Lektor 1994 als Verlagsleiter zu Aufbau in die Französische Straße nach Berlin geholt, in ein Verlagsgebäude mit gepolsterten Direktoriumstüren wie aus einem James-Bond-Film.

Die riesige glasüberdachte Kantine im Innenhof war bereits zum verstaubten Lager mutiert. Und das unüberschaubare Kellerverließ barg Hinterlassenschaften der DDR – von ungenießbarem bulgarischen Rotwein ("Stierblut") bis zu den Honorarabrechnungen von Brecht und Thomas Mann ("Erbitte, mir mein Honorar für die Gesamtausgabe in Form eines Zobelmantels auszugleichen").

Die Aufbau-Hürden der Nachwendezeit

Von über 300 Mitarbeitern vor der Wende waren bei Aufbau Anfang der 90er gerade einmal 30 übrig geblieben. Wie sollte dieser Verlag den Anschluss an den westdeutschen Buchmarkt schaffen? Mit Buchkunst bei Rütten & Leoning in der Nachwendezeit hatte es schon mal nicht geklappt – der Verlag blieb nicht nur auf den Ausgaben selbst, sondern auch auf den Kosten für Bleisatz und Buchschmuck sitzen.

Aber da gab es ja noch Autoren wie Christa Wolf und Christoph Hein, Klaus Schlesinger und Helga Königsdorf. Vom Fundus der großen Exilautoren waren wenige, aber attraktive Rechte bei Aufbau verblieben: Anna Seghers, Egon Erwin Kisch, Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger fanden sich vereinzelt noch in den Lehrplänen der Oberschulen. Man experimentierte mit Zeitschriften wie der "Neuen deutschen Literatur", den (heute wiedererwachten) "Marginalien" der Pirckheimer-Gesellschaft und der Unbekümmertheit der Jugend mit dem Nachfolger von Ossietzkys "Weltbühne", das als "Blättchen" am Kiosk der Nachwendejahre ein linkes Publikum suchte. Aber wer wollte das im Westen lesen, geschweige denn kaufen?

Der bis dato größte Lizenzdeal mit den USA

Also verlegte der ehemals größte Verlag des Ostens Stewart Copelands "Generation X", ein Manifest des Hedonismus der 90er Jahre, das so gar nicht zum Aufbau-Profil passte. Lunkewitz hatte diese Ungeheuerlichkeit aus Amerika mitgebracht und Aufbau damit einen Weg in den Westen gewiesen. Doch dazu brauchte er einen Geschäftsführer, der Tradition mit Chuzpe vereinen konnte. Er fand ihn in René Strien, der den Verlag ab 1994 gemeinsam mit dem großen Fontane-Spezialisten Gotthard Erler leitete.

Victor Klemperers Tagebücher "Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten" erschienen 1995 bei Aufbau. Sie wurden von Marcel Reich-Ranicki der gesamtdeutschen Nation im "Literarischen Quartett" zur Lektüre verordnet – und bescherten Aufbau den bis dato größten Lizenzdeal mit den USA überhaupt. Ein Jahr später erschien ein Historienroman, den der von Rowohlt angeheuerte Werbeleiter während des Papstbesuchs in Deutschland mit dem Slogan "Der Papst kommt, die Päpstin ist schon da!" beworben hatte. Über 100.000 verkaufte Hardcover, und in der Folge über 5 Millionen verkaufter Taschenbücher!

Zwischen den Fauteuils des Feuilletons

Die Entscheidung Striens, das Buch für Aufbau einzukaufen sowie die Taschenbuchrechte bei Aufbau zu halten und – auch nicht saisonweise – an die großen Taschenbuchverlage zu lizenzieren, hat dem Verlag das Überleben ermöglicht. Strien hat auch in den Folgejahren den Aufbau Verlag gern zwischen die altgedienten Fauteuils des Feuilletons gesetzt – zwischen Franziska Linkerhand und Effenberg, zwischen Depeche Mode und Fallada. Auch der Gustav Kiepenheuer Verlag war zu Aufbau gekommen, aber er konnte sich nie gegen den übermächtigen Verlag Kiepenheuer & Witsch durchsetzen und wurde 2009 stillgelegt. Und die renommierte Reihe Aufbau Bilderbuch, 1999 von Strien mit der Herausgeberin Ute Blaich gegründet, wurde nach dem Neustart unter Matthias Koch an den Ueberreuther Verlag gegeben und dort nach wenigen Ausgaben eingestellt.

Bei Aufbau war er Patriarch im besten Sinne, der seinen Mitarbeitern zuhörte und ihnen Wege aufzeigte, wo manche nur Gestrüpp sahen. Am Ende aber hatte der Aufbau Verlag sowohl die Nachwendejahre als auch die krisenhaften 2000er überlebt. Mehr noch: Zu dem von Lunkewitz 1993 gegründeten Taschenbuchverlag AtV hob Strien als Joint Venture zwischen dem Süddeutschen Rundfunk und dem Aufbau Verlag 1999 einen Hörbuchverlag aus der Taufe. Der DAV war einer der ersten Verlage, die den Hörbuchtrend erkannt hatten, und nach wenigen Jahren zählte Der Audio Verlag zu den Top 5 im Konzert der ganz Großen. Mittlerweile hatte Aufbau sein Ost-Image abgeschüttelt. Aber das Überleben war keine Selbstverständlichkeit, und es ist nur ganz wenigen Verlagen aus dem Osten gelungen.

Frischzellenkur am Moritzplatz

"Wir sind der Verlag", wehrten sich deshalb die Mitarbeiter, als Bernd F. Lunkewitz der Treuhand 2008 beweisen wollte, dass es den Aufbau Verlag gar nicht gab. Ein jahrzehntelanger Rechtsstreit war diesem dramatischen Schritt vorangegangen, der Aufbau nun in die Insolvenz führte. Schade, dass daran die Freundschaft zwischen Lunkewitz und Strien zerbrach, die dem Verlag bis dato das Überleben möglich gemacht hatte. René Strien wehrte sich mit Händen und Füßen gegen den Verkauf des Verlags an einen der großen Konzerne, denn ihm war klar, was das für den Verlag bedeutet hätte. Das Schicksal des Berlin Verlags hatte er vorausgesehen.

Ungefähr zu jener Zeit las Matthias Koch in der "Taz", dass der traditionsreiche Aufbau Verlag zum Verkauf stünde. Als Germanist kannte er Brecht und Anna Seghers, und er verliebte sich in die Idee, spontan einen renommierten Verlag in das lang geplante Immobilienprojekt am Moritzplatz zu integrieren. Gesagt, getan. Aufbau profitierte in vielerlei Hinsicht von der Frischzellenkur – nicht nur in geografischer Hinsicht, denn nach dem Hackeschen Markt und dem Zwischendomizil in der Lindenstraße war dies der vierte Berliner Verlagssitz, aber der erste im Kreuzberger Westen.

Wieder einmal hatte der Verlag seine Krise schon hinter sich, als manch anderer Verlag erst hineinschlitterte. Den E-Book-Umsatz konnte Aufbau in zwei Jahren auf fast 20 Prozent hochschrauben, bevor die großen Verlage aufgesprungen sind. Und doch war der "neue" Aufbau Verlag eine fragmentierte Lösung. Die Andere Bibliothek kam hinzu, eine Vertriebsgesellschaft, der junge Verlag Blumenbar und die Neugründung Metrolit. Was vorher eine Aufbau-Einheit war, zerbrach in Partikularinteressen. Das schmerzte nicht nur René Strien, denn er hatte stets das große Ganze im Blick.

Ein Habanero und "Digitalista"

Und was treibt so einer, wenn er nach 20 Jahren "seinen" Aufbau Verlag verlassen hat? Bereits seit 2011 war er – neben vielen weiteren Ämtern – im Vorstand der AG Publikumsverlage (heute IG Belletristik/Sachbuch), und hat dort 2015 die Aktion "Je suis Charlie!" als Solidaritätsadresse und Bekenntnis des Deutschen Buchhandels für Meinungsfreiheit initiiert. Wenig später stieg er beim Start-up Botspot ein und reist bis heute als Verantwortlicher für Business Development um die halbe Welt, um von Wolfsburg bis Hongkong 3-D-Scannerlösungen zu entwickeln und zu vermarkten. Scherzhaft nennt der leidenschaftliche Habanero sich nun "Digitalista".

Aber auch das Verlegen möchte und braucht er nicht zu missen: René Strien ist Gesellschafter der Leetspeed Media GmbH, die unter anderem die App "Snippy" herausgebracht hat sowie eine "Handy-Novela" für Android mit Großstadtgeschichten und Reflexionen aktueller Politskandale. Der kleine Verlag veröffentlicht auch wiederentdeckte Bücher wie den Überraschungserfolg "Die verratene Armee" von Heinrich Gerlach. Außerdem ist René Strien Aktionär und Aufsichtsratsmitglied des Hamburger Theaterverlags Neue Pegasus AG. Regelmäßig reist er nach Havanna und hält dort vor großem Publikum Vorträge an der Universität und auf der Buchmesse. Außerdem sitzt Strien in der Jury des Uwe-Johnson-Preises.

Das sieht alles also so gar nicht nach Ruhestand oder gar Langeweile aus … und schon wieder hat er was zu erzählen. Bleib so umtriebig, René – ich wünsche Dir alles Gute für die nächsten 65 Jahre!

Biografisches

René Strien (geboren 1953 in Solingen) studierte zunächst Rechtswissenschaften, später Germanistik und Romanistik an der Universität zu Köln. Nach einer Karriere als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Romanistischen Seminar der Universität zu Köln war er von 1989 bis 1993 als Lektor beim Gustav Lübbe Verlag in Bergisch Gladbach tätig. 1994 wurde er Verlagsleiter des Aufbau Verlags Berlin; von 1995 bis 2014 war er Geschäftsführer des Verlags. Seit 2015 verantwortet er beim Start-up botspot das Business Development für die Entwicklung und Vermarktung von 3-D-Scannern.

Tom Erben, Autor dieses Beitrags, hat den Aufbau Verlag von 2006 bis 2014 zusammen mit René Strien geführt und ist heute Director Community Relations bei der WBG.