Zum Reformbedarf des Börsenvereins: Interview mit Martin Spencker und Matthias Ulmer

"Nicht über jedes Stöckchen springen"

16. Juli 2015
von Börsenblatt
Vor zehn Jahren haben Martin Spencker und Matthias Ulmer ihren Essay "Zur Zukunft des Börsenvereins" publiziert. Heute sehen die beiden Verleger neuen Reformbedarf: Der Verband soll als pluralistische Plattform organisiert werden.

Vor genau zehn Jahren ist im Börsenblatt Ihr reformatorischer Essay "Zur Zukunft des Börsenvereins" erschienen. Was denken Sie heute, wenn Sie den Text wiederlesen?
Martin Spencker: Als wir ihn damals schrieben, sind wir von einer Branche ausgegangen, die den gleichen inneren Zusammenhalt hat wie 20 oder 40 Jahre zuvor. Wir hatten noch kein Gefühl dafür, welche Disruption die Digitalisierung der Gesellschaft für unsere Branche bedeuten würde. Alles war vor zehn Jahren noch auf Wachstum getrimmt. Intranets an den Universitäten spielten fast keine Rolle, Lehrbücher waren das Medium der Wahl. Die Unterschiede zwischen den Marktteilnehmern waren viel kleiner als heute, der Fachverleger hat sich noch in einem Boot gefühlt mit dem kleinen Literatursortimenter.

Woran machen Sie denn die Disruption heute fest?
Spencker: Je nach Geschäftsmodell und Markt, um den man sich kümmert, werden in den Unternehmen sehr unterschiedliche Dinge diskutiert. Zwei Beispiele: Das erste Mal in der Geschichte der Branche ist der größte Buchhändler des Landes nicht Mitglied im Börsenverein. Amazon will die Spielregeln der Branche verändern und ist nicht eingebunden in ein gemeinsames Branchen-Selbstverständnis. Die Fachverleger wiederum investieren zu 90 Prozent in Geschäftsmodelle, die mit dem Buchhandel nichts mehr zu tun haben werden.

Mit fachlich zunehmenden Divergenzen haben Sie sich aber damals schon befasst.
Matthias Ulmer: Ja, aber dabei haben wir den Verband angeschaut, nicht die Branche. Heute interessieren mich die Strukturen des Verbands viel weniger, denn es geht darum zu sehen, welche Aufgaben wir in der Branche lösen müssen. Danach erst kommt die Strukturfrage.

Sie, Herr Ulmer, haben gerade gefragt, ob die Dreispartigkeit des Verbands noch passt?
Ulmer: Ich frage, ob die trennende Struktur der Sparten noch notwendig ist. Ich empfinde sie oft als behindernd. Nehmen Sie libreka!: Die Probleme resultierten daraus, dass wir drei Sparten haben, die untereinander im Verteilungswettkampf stehen.

Verteilungskämpfe gab es auch früher, vielleicht immer schon. Wie wollen Sie die vermeiden?
Ulmer: Uns hat lange im Börsenverein das Leitbild gefehlt. Wenn der Erhalt des Verbandes zum Selbstzweck wird, dann unterhält man sich nur noch über Strukturen und Umverteilung. Wir müssen mehr über Inhalte reden. Wenn wir das Leitbild definieren, Mittler zwischen Autor und Leser sein zu wollen, dann haben wir die maximale Klammer gesetzt. Dann sind wir immer noch alle in einem Boot. Und man sieht: Es geht um das Biotop zwischen Autor und Leser. Es geht um unseren kulturellen Auftrag, diese gesamte Struktur zu pflegen. Nur dürfen wir dafür keine Spartengrenzen ziehen, sondern sollten schauen: Wie kann das Ganze flüssiger, kreativer, produktiver werden?

Spencker: Inhaltlich teile ich, was du sagst. Gleichzeitig bin ich skeptisch, denn das ist sehr idealistisch. Ich bin ein angestellter Manager, der nach klaren Kriterien beurteilt wird. Da spielt die Frage nach einem Biotop zwischen Autor und Leser keine Rolle. Wir denken in Geschäftsmodellen. Inzwischen sind doch die meisten Leistungs- und Verantwortungsträger in der Branche Manager. Die wollen für ihr Unternehmen optimale Rahmenbedingungen schaffen. Für die ist der Verband bestenfalls ein Instrument, das zu diesem Zweck nützlich sein kann.

Hat die strikte Zweckorientierung des Managers der Branche nur Vorteile gebracht?
Ulmer: Wenn es darum geht, Nachhaltigkeit zu erzeugen für die gesamte Branche, dann sehe ich die Gefahr bei vielen Managern, dass sie eben kurzfristig optimieren, aber nicht langfristig. Wie wir wissen, ist es eine Stärke der Familienunternehmen, dass sie sehr langfristige Optimierungen betreiben können. Die Krisen in Konzernstrukturen, die wir derzeit erleben, hat viel mit solchen Faktoren zu tun. Wer genau hinschaut, erkennt, dass vermeintliche "Nur-Kultur-Themen" großen Einfluss auf unsere wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben: die Leseförderung, die Vermittlung von Urheberrechtsbewusstsein in den Schulen, das Einstehen für auskömmliche Bedingungen für eine Autor, das Hochhalten gesellschaftlichen Interesses an Literatur, und manches mehr.

Spencker: Da bin ich bei dir. Ich würde es nur nüchterner formulieren: Es geht um den Markt.

Ulmer: Markt ist eine Reduzierung. Da findet der Warenaustausch statt. Aber uns darf auch die Rezeption nicht egal sein. Aus reinen Marktgesichtspunkten bräuchte es Einrichtungen wie die Stiftung Buchkunst nicht. Aber wir sind halt mehr als bloß Markt. Deshalb brauchen wir den Mut, wieder über diese Ideale zu sprechen.

Herr Spencker, kämen Sie ohne Ideale klar?
Spencker: Ich halte Ideale in diesem Kontext tatsächlich nicht für hilfreich. Sie verbergen doch nur die Alltagsrelevanz der Arbeit eines Verbands – und zwar auch für Leute, die sich überlegen, ob sie sich ehrenamtlich engagieren sollen. Wenn wir attraktiv sein wollen für Verbandsmitarbeit, dann müssen wir marktrelevante Themen anbieten. Sonst kommt schnell die Abwehrreaktion: Ich habe keine Zeit für allgemeines Gelaber.Am Ende des Tages geht es im Ehrenamt um den Eigennutz.

Es gab mal die Idee, dass es mir dann gut geht, wenn es den andern auch gut geht. Ist die obsolet?
Ulmer: Kein Elternteil meldet sich für den Job eines Elternbeirats in der Schule, um sich ausschließlich für das eigene Kind einzusetzen. Man wird in ein Ehrenamt nie als reiner Egoist gewählt, sondern als Fürsprecher von vielen.

Spencker: Mein Vorschlag wäre, dass wir das Eigennutzstreben auch im Ehrenamt als Realität anerkennen. Das Wahrnehmen eigener Interessen ist das erste Movens des Kaufmanns. Am Anfang steht in Unternehmen immer die Frage: Was bringt uns das?

Was sind denn die Themen, die alle Mitglieder gleichermaßen am Börsenverein festhalten lässt?
Spencker: Das sind gar nicht so viele: Urheberrecht, verminderter Mehrwertsteuersatz, fester Ladenpreis. Das bleiben die Klassiker. Dafür brauchen wir aber nur einen kleinen, schlagkräftigen Verband.

Ulmer: Ich brauche die Pflege der Autoren und der Leser, und ich brauche die Vermittlungswege dazwischen. Der Kern einer Verbandsreform ist es, zu Anfang die Frage zu beantworten: Was ist überhaupt unsere Aufgabe? Im Vorstand haben wir die Frage nach der Mission des Börsenvereins in einem zweitägigen Workshop behandelt. Im Kern bleibt: die Vermittlung zwischen Autor und Leser.

Spencker: Wie wollen wir im Verband umgehen mir dem Trend »Cut out the Middleman«? Aus der Sicht des Verlags ist ein Buchhändler der Middleman auf dem Weg unserer Bücher zum Leser. Ich denke, ein Verband der Zukunft müsste in der Lage sein, alle Fragen rund um alte und neue Geschäftsmodelle ideologiefrei zu diskutieren – ohne irgendein Dogma, wie zum Beispiel, dass wir alle unsere Datenbanken über den Buchhandel an die Universitäten lizensieren müssen.

Heißt also: Interessendivergenz im Verband soll zunehmen dürfen.
Ulmer: Ich würde lieber von Pluralität sprechen. Man kann dann Interessenpluralität zur Divergenz machen, aber man kann auch akzeptieren, dass es sehr viele Wege gibt, sein Geschäft zu betreiben.

Spencker: Dann muss Amazon unbedingt in den Verband.

Ulmer: Ja, natürlich.

Spencker: Aber das Amazon-Bashing, das der Verband jetzt offensiv betreibt, würde nicht zu diesem Paradigma passen. Denn im Raum zwischen Autor und Leser ist Amazon einer der größten Player. Der Verband hat also zwei Alternativen. Die erste heißt: möglichst wenig Pluralität und Divergenz − das bedeutet aber schrumpfen. Die zweite wäre: aufmachen für den weiten Raum zwischen Autor und Leser − unter Verzicht auf den Anspruch, immer zu einem Ausgleich der Interessen zu kommen.

Was würde die zweite Alternative denn konkret bedeuten − zum Beispiel für einen Lobbyisten, der zu Open Access eine Position beziehen soll?
Ulmer: Es geht darum, die Gesamtheit sehen zu lernen. Der Glaube, wir Verlage haben die Vertriebsmacht und deshalb sind die Autoren von uns abhängig, hat uns geschadet. Daraus ist ein Verhältnis zwischen Autoren und Verlagen entstanden, das für die neue Welt des Selfpublishing mitverantwortlich ist und auch für die Open-Access-Welt. Das heißt, die Verlage haben ihre Grundfunktion, die Bedingungen zu schaffen, unter denen ein Autor schöpferisch sein kann, aus dem Blick verloren. Das hat viele der Probleme, gegen die wir heute kämpfen, überhaupt erst verursacht.

Spencker: Mit Ihrer Frage machen Sie ja darauf aufmerksam, dass der Verband nicht Lobbyarbeit für einander widersprechende Agenden leisten kann. Wenn wir uns für das pluralistische Modell entscheiden, hätte das meines Erachtens zur Folge, dass es weniger Themen gibt in der Lobbyarbeit. Und dass es seitens des Hauptamtes viel genauere Überlegungen geben muss: Was bleibt denn nun übrig als der Kernbereich, in dem wir uns für alle unsere Mitglieder einsetzen können? Lobbyarbeit gegen das Geschäftsmodell Open Access zum Beispiel − was leider einige wollten − ist Unsinn. Ein pluralistischer Verband würde sich als Plattform verstehen. Er würde nicht mehr über jedes Stöckchen springen, das irgendein Mitglied ihm hinhält.

Und es würde ihm leichter fallen, neue Mitgliedergruppen anzusprechen?
Spencker: Zum Beispiel würde uns das die Chance eröffnen, eine Gruppe in unseren Verband zu integrieren, die wir bei uns haben sollten: die Bibliotheken. Im 19. Jahrhundert war es schon einmal das Verständnis der Verleger, Buchhändler und Bibliothekare, keine Kontrahenten zu sein. Vielleicht machen wir mal einen Kongress "Library meets Publisher meets Bookseller". Bibliothekare sind enorm kongressfreudig.

Ulmer: Einverstanden! Wenn wir wirklich den gesamten Raum zwischen Autor und Leser meinen, sind Bibliotheken ein wesentlicher Faktor. Aber sie haben schon einen Verband, der ihre Interessen effizient vertritt. Das heißt, wir hätten einen befreundeten Verband, mit dem gemeinsam wir übergeordnete Ziele verfolgen sollten. Anderes Beispiel: Es muss Aufgabe des Verlegerausschusses sein, auch die Selfpublisher als Mitglieder zu gewinnen, statt sie zu skandalisieren.

Spencker: So wird der Verband für mich zu dem Ort, an dem ich alle Leute treffe, die ich für mein Geschäft brauche, um mit ihnen nach den besten Bedingungen für dieses Geschäft zu suchen. Konkret heißt das, dass wir die Heilige Kuh der Dreispartigkeit auflösen müssen.

Da sind Sie sich einig: weg mit der dreispartigen Gliederung?
Spencker: Die Gliederung nach Sparten ist nicht mehr sinnvoll, weil sie die falschen Identifikationsangebote macht. Vielmehr sollte der Verband nach Arbeitsgruppen oder Task Forces gegliedert sein. Er würde sich nicht mehr um den Interessensausgleich zwischen den Sparten kümmern. Dafür sind die Handelspartner selbst verantwortlich. Der Verband versteht sich dann in erster Linie als eine Plattform, auf der professionelle Netzwerke entstehen. Er wird mehr zu einer Denkfabrik. Das ist schon einmal sehr gut vorgeführt worden, als das 50-Thesen-Papier herauskam. Dieses Papier war in vielen Verlagen und Buchhandlungen Grundlage für die Strategiearbeit.

Wie soll das Verhältnis zwischen Hauptamt und Ehrenamt in der Zukunft aussehen?
Spencker: Wir hatten damals gesagt, das Hauptamt müsse gestärkt werden. Das ist auch passiert. Aber letztendlich wird die Agenda immer noch stark vom Ehrenamt bestimmt. Ich bin überzeugt, wir brauchen das Hauptamt auch als Agenda-Setter. Noch wird es zu stark von den Partikularinteressen des Ehrenamts getrieben. Das Hauptamt braucht aber eine gewisse geistige Unabhängigkeit von dem, was da in den Gremien gerade mal wieder geplaudert wird.

Ulmer: Die übergeordneten Dinge sind Aufgabe des Hauptamts. Dort, wo es konkreter um den betrieblichen Alltag geht, sind die Mitglieder gefragt. Da haben wir den Austausch untereinander und können das auch einfach besser.

Wo bleibt dann die Willensbildung und -durchsetzung des Gesellschafters, also der Mitglieder?
Ulmer: Jedes Bemühen im Verband, die Agenda von unten nach oben festzulegen, scheitert. Das ist die langjährige Erfahrung im Börsenverein. Wenn man nicht von oben eine Agenda setzt, passiert auch nichts. Und wenn wir sagen, wir vermitteln zwischen Autor und Leser, kann es doch nur das Hauptamt sein, das diese ganze Bandbreite von Aufgaben ordnet und wahrnimmt.

Wie würde eine Organisationsstruktur dann aussehen?
Ulmer: Die Geschäftsbereiche der Fachausschüsse entfallen. An ihre Stelle treten Kommissionen etwa nach dem Vorbild der Deutschen Fachpresse. In dem Moment, wo eine Kommission eingerichtet ist, wird ihr ein hauptamtlicher Mitarbeiter als Projektmanager zugeordnet. Jedes Jahr muss man das im Rahmen der Budgetierung überprüfen und neu projektieren.

Spencker: Weiterer Vorteil: Ein Projekt hat immer auch ein Ende. Das könnte helfen, der Gefahr ewiger Selbstbeschäftigung zu entgehen.

Wie sähen die Buchtage und überhaupt die Veranstaltungen des Verbands dann aus?
Spencker: Die Buchtage wären die Plattform, auf der die Kommissionen zu innovativen Themen berichten. Der Rest wären schlanke vereinsrechtliche Notwendigkeiten auf der Hauptversammlung. Deren ridikül gewordene Gewichtigkeit − der Hammer und all das − wird nicht mehr gebraucht. Riten aus dem 19. Jahrhundert binden niemanden mehr. Ich glaube im Übrigen, man kann durchaus profitabel mehr Veranstaltungen anbieten als bisher.

Ulmer: Wenn man sie differenziert. Wir sollten Events in die Landschaft tragen, um unseren Plattformgedanken regional zu verwirklichen. Landesverbände wären dann nichts anderes als regionale Kommissionen. Und sie wären Statthalter des Hauptgeschäftsführers vor Ort und müssten die Aufgaben der Lobbyarbeit bei den Landesregierungen wahrnehmen. Das alles braucht keine große Struktur.

Wie erfolgt Mitgliederakquise und -betreuung?
Spencker: Der Verband braucht mehr Mitglieder, also muss man ihre Gewinnung professionalisieren.

Ulmer: Das ist eine Vertriebsaufgabe. Sie wird ja auch durchaus wahrgenommen. Das Hauptproblem ist, dass wir nicht so genau wissen, welche neuen Mitgliedergruppen angesprochen werden sollen. Es geht weniger darum, welchen materiellen Mehrwert der Verband einem Mitglied bieten kann, sondern es geht um deren  emotionale und inhaltliche Bindungen.

Spencker: Nachzudenken wäre auch noch einmal grundsätzlich über die Einnahmeseite des Verbands. Wofür zahlen Mitglieder? Da wird man Leistungen identifizieren, die einfach für alle gemacht werden müssen und auch von allen zu finanzieren sind. Und eine Ebene drunter sollte man funktionsbezogene Abgaben einführen. Das wäre fantasievoller als eine gestaffelte Pauschale, wie wir sie jetzt haben und die so eine Art Flatrate ist.

Ulmer: Man könnte ja sagen, für die Mitgliedschaft jedes Mitarbeiters in einer Kommission wird eine Gebühr fällig. Dann ergeben sich Beitragsunterschiede je nach Unternehmensgröße womöglich von selbst.

Soll der Börsenverein seine Wirtschaftsbetriebe verkaufen?
Spencker: Es gibt keinen Grund, das VLB oder die Messebetriebe zu privatisieren. Aber ich würde schon sagen, so etwas wie libreka! sollte man nicht noch einmal starten, sondern im Gegenteil sehr konservativ mit unternehmerischer Tätigkeit des Verbands umgehen.

Ulmer: Die Wirtschaftsbetriebe des Verbandes haben, ähnlich wie Staatsunternehmen, nicht primär das Ziel von Gewinnausschüttungen. Sie sollen Funktionen erfüllen, die anders nicht zustande kämen. Der Verband ist immer dann gefragt, wenn die Mitglieder etwas sehr wichtig finden, was sie selber rein marktwirtschaftlich nicht herstellen könnten. Das beschränkt die Geschäftsführung eines Wirtschaftsbetriebs in ihrem Raum, ja, aber so ist das nun mal. Die Wirtschaftsbetriebe wird es immer geben, sie sind für die Finanzierung eines Verbands viel zu wichtig.