Zum Tode von Fritz Stern: Nachruf von Detlef Felken

Ein Weltbürger mit Geist und Witz

19. Mai 2016
von Börsenblatt
Ein großer Historiker und politischer Analytiker, ein liberaler Geist, den Deutschen ein kluger Lehrer und wahrer Freund − so wird Fritz Stern, Friedenspreisträger von 1999, der Nachwelt im Gedächtnis bleiben. Detlef Felken, der als Cheflektor im Verlag C.H. Beck mit Stern zusammenarbeitete, widmet dem Verstorbenen seinen Nachruf.

Fritz Stern war ein großer Historiker, ein glänzender Analytiker der Weltpolitik, ein begnadeter Deutschland-den-Amerikanern- und Amerika-den-Deutschen-Erklärer, ein Genie der Liebenswürdigkeit und ein ganz und gar wunderbarer Mensch. Sechzehn Jahre lang war ich sein Lektor, und es waren herzliche, heitere und sehr erfolgreiche Jahre. Der traurige Anlass eines Nachrufs gibt mir die Gelegenheit, endlich einmal zu bekennen, dass ich ihn gleich mehrfach sträflich unterschätzt habe. Er selbst hat sich darüber königlich amüsiert, ich weniger.

Als wir vor einem Jahrzehnt daran gingen, seine Erinnerungen herauszubringen, die auf den stattlichen Umfang von 675 Druckseiten angewachsen waren, hatte ich so meine Sorgen, wer derart umfangreiche Memoiren eines Historikers wohl lesen wolle. Hatte überhaupt jemals ein Historiker erfolgreiche Erinnerungen publiziert? Wie bekannt war Fritz Stern in Deutschland eigentlich? Waren die Verkäufe seiner vorangegangenen Bücher nicht überschaubar gewesen? Fritz spürte meine Skepsis, aber er ließ sich davon nicht anstecken. Er hatte alles gegeben, und er sollte Recht behalten. Wir starteten mit einer Erstauflage von 12.000 Exemplaren – und lagen schön daneben. „Fünf Deutschland und ein Leben“ verkaufte sich allein im ersten Jahr 50.000-mal, mittlerweile sind es fast 100.000 Exemplare. C.H.Beck hatte einen waschechten Bestseller gelandet, den ersten übrigens nach langer Zeit. Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, das Buch, in dem die Lebens- und Familiengeschichte zu einem Panorama der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert wird, hat gute Aussichten auf den Titel „Bestverkaufte Historiker-Memoiren aller Zeiten“. Ich hatte Sterns Beliebtheit völlig falsch eingeschätzt.

Einige Jahre später saßen Helmut Schmidt, Fritz Stern, Thomas Karlauf und ich in Hamburg im Haus von Schmidt und arbeiteten an dem Gesprächsband „Unser Jahrhundert“. In den Pausen zogen Fritz und ich Bilanz, und ich kam mir vor wie der Coach während eines Boxkampfs. „Sie müssen mehr Contra geben, Fritz. Der Schmidt muss hier nicht dauernd die Lufthoheit haben.“ „Tue ich doch, lieber Detlef, tue ich doch“, kam es leicht ungehalten zurück. Ich wollte nicht, dass mein Autor in die Rolle des bloßen Stichwortgebers für den wortgewaltigen Alt-Bundeskanzler geriet. Doch als wir gemeinsam über dem Manuskript saßen − von Thomas Karlauf virtuos eingerichtet −, da musste ich zu meiner Überraschung feststellen, dass Fritz ausgezeichnet wegkam. Schmidt hatte zwar die größeren Sprecheranteile, aber sein realpolitischer Konservatismus stand in einem auffälligen und nicht immer vorteilhaften Kontrast zu Fritz Sterns liberaler und weltoffener Grundhaltung.

Auch in den Rezensionen des Buches, das sogleich auf Platz 1 der Bestsellerliste stürmte, bekam Stern oft eine bessere Note als sein Freund Helmut Schmidt. Später habe ich bei einem Drink Abbitte geleistet. Und da war es wieder: das berühmte Fritz-Stern-Lächeln, unnachahmlich verschmitzt und mit herrlich funkelnden Äuglein hinter den dicken Brillengläsern. Er konnte sich freuen wie ein Lausbub über einen gelungenen Streich. Mit seiner sanften, treffsicheren Art hatte er keinen Geringeren als Helmut Schmidt aufs Glatteis geführt.   
                         

Mit „Hass und Heine“ im Gepäck war Fritz Stern 1938 in den USA angekommen, so hat er es – prägnant wie immer − beschrieben. Damals war er zwölf Jahre alt. Die Familie Stern teilte das Schicksal vieler deutscher Juden, die durch das Dritte Reich zur Emigration gezwungen waren und damit zwar dem Schlimmsten entgingen, aber doch so gut wie alles verloren hatten außer dem nackten Leben. Entsprechend hart war der Neubeginn. Wer den Weg ermessen will, den der Friedenspreisträger und erste ausländische Redner zum Tag der deutschen Einheit im Deutschen Bundestag zurückgelegt hat, der tut gut daran, sich an diese Szene im Hafen von New York zu erinnern: Der Junge aus Breslau, der mit Heine den heiligen Schatz der deutschen Kultur und mit dem Exil die Demütigung des Ausgestoßenen im Herzen trägt.

Erst als er 1954 bei einer Trauerfeier für die Opfer des 20. Juli, in die er eher zufällig gerät, die trauernden Witwen der Widerstandskämpfer mit ihren weinenden Kindern sieht, weicht die Abscheu vor allem Deutschen dem Mitgefühl und der Scham über den eigenen Hass: „Ich wollte ja an ein anderes Deutschland glauben.“ Das Gute sollte endlich obsiegen, so muss er es gefühlt haben, und dazu will Fritz Stern von nun an seinen Beitrag leisten. Er geht auf diese neu sich formierende Bundesrepublik zu, nimmt sich ihrer noch ungewissen politischen Kultur an, als amerikanischer Staatsbürger deutscher Herkunft, und bis an sein Lebensende wird er Deutschland aufmerksam begleiten: als Ratgeber und Kommentator, Mahner und Mittler, als transatlantische Stimme der Vernunft schlechthin. In seiner Generation gibt es nur wenige, die sich um Freiheit und Demokratie in Deutschland so verdient gemacht haben wie er. 

Niemals ist Fritz Stern nur ein Historiker gewesen. Er war aus tiefster Überzeugung und mit ganzer Leidenschaft ein politisch engagierter Mensch, der wusste, dass jede Demokratie ohne die aktive Mitwirkung ihrer Bürger verloren ist. Ein Gespräch mit ihm ohne Blick auf die Weltlage – undenkbar. Dass er in souveräner Kenntnis Geschichte und Gegenwart miteinander verband, sich nicht scheute, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, und dass er stets einen untrüglichen Kompass für das besaß, was Anstand und Humanität gebieten, das machte ihn und seine moralische Autorität aus, die mit den Jahren immer größer wurde, vor allem in Deutschland und der Schweiz, wo seine Bücher und Interviews nicht nur wegen ihres Scharfsinns begierig gelesen wurden, sondern auch wegen der trockenen Pointen, die er stets darin unterzubringen wusste. Denn Fritz Stern hatte nicht nur Geist, sondern auch Witz. Wer sagt schon so schön boshaft wie er in einem seiner letzten Interviews, dass Donald Trump bislang durch nichts auf sich aufmerksam gemacht habe als durch seinen Reichtum, seine Vulgarität und seine − Hässlichkeit?  

Nach einer Zeit der Zuversicht, die deutlich noch den Ton seiner Erinnerungen prägt, musste Stern in den letzten Jahren mit wachsender Sorge konstatieren, dass die alten Dämonen, die er sein Leben lang bekämpft hatte, wieder auf die Bühne des Weltgeschehens zurückgekehrt waren. Illiberalität, Populismus, die Renaissance autoritärer Politik, die lähmende Zerrissenheit der amerikanischen Nation: Das alles verfinsterte das neue Zeitalter, dessen Anbruch er 1989 begeistert begrüßt hatte. „Die Zerbrechlichkeit der Freiheit ist die einfachste und tiefste Lehre aus meinem Leben und meiner Arbeit.“ So hat er es gleich am Eingang seiner Erinnerungen geschrieben. In den letzten Gesprächen, die ich mit ihm hatte, war unüberhörbar, wie sehr ihn der Gedanke belastete, diese teuer erkaufte Lehre könnte erneut in Vergessenheit geraten – auch in Europa. Es darf als sein wichtigstes Vermächtnis gelten, dass es so weit nicht kommen darf.     

Er war den Deutschen ein eminent kluger Lehrer und ein wahrer Freund. Die Welt ist ohne ihn ein Stück dümmer geworden und auch langweiliger. Farewell, Fritz, und − danke!


Detlef Felken ist Cheflektor im Verlag C.H.Beck.