Netzanonymität

Geschlachteter Diskurs

8. Dezember 2015
von Börsenblatt
Ein Journalist und ein Strafrichter lassen online mal Fünfe gerade sein. Das Ergebnis ist ein veritabler Shitstorm, eine beschädigte Wissenschaftlerreputation und ein zur Unkenntlichkeit verzerrter Diskurs über Anonymität im Internet

Vorweg: Ja, Professor Gerald Spindler hat es wirklich gesagt, die Sache mit der Anonymität, die eine heilige Kuh sei, die geschlachtet werden müsse. Er sagte es in seinem Vortrag auf dem Kongress »Die Zukunft des Urheberrechts« in Berlin in der Akademie der Künste letzte Woche. Vielleicht nicht die ideale Formulierung, wenn man sich daran macht, eine Debatte über das sensible Thema Anonymität im Internet anzustoßen. Spindler wurde damit auch tags darauf auf der Startseite der IT-Zeitung Heise.de zitiert: »Urheberkonferenz: ›Heilige Kuh Anonymität gehört geschlachtet.‹«

Der Zusammenhang in den Heise-Journalist Stefan Krempl Spindlers Äußerung stellte, ist nahezu frei erfunden. Mitnichten hatte der renommierte Göttinger Rechtswissenschaftler das gefordert, was der Heise-Artikel schon im Anreißer nahelegt: Nämlich, dass der »Anonymität im Internet der Garaus gemacht werden« solle. Das Ergebnis war dasselbe wie immer, wenn schlechter Journalismus und ein sachkundefreies Publikum zusammenkommen: Jede Menge heiße Luft und entsprechend viel Schaum vor dem Mund diktierten den folgenden »Diskurs«. Der Artikel wurde auf Heise.de mittlerweile fast 900 Mal kommentiert. In der Folge wurde selbst Spindlers Wikipedia-Eintrag mit der irreführenden Berichterstattung angereichert. Auch die Grünen-Politikerin Renate Künast fühlte sich in ihren Zitaten zum Thema Anonymität von Heise-Journalist Krempl aus dem Zusammenhang gerissen, was ihr allerdings wenig half. Die Fackeln der Heise-Forumsgemeinde waren leider schon angezündet – da will man die auch gebrauchen.

In Wirklichkeit hatte sich Spindler über ein ganz anderes Thema geäußert: nämlich über das juristisch vielzitierte Online-Haftungsvakuum auf sogenannten Hostprovidern, wie Filehostern, Social Media Plattformen oder eben Online-Foren (wie auch Heise.de eines ist). Dort können Nutzer die Plattformen anonym nutzen, gleichzeitig sind die Plattformen durch das Telemediengesetz (TMG) vor einer Haftung für die Äußerungen ihrer Nutzer ebenfalls geschützt. Es entsteht ein Haftungsvakuum, in dem den Geschädigten wie Opfern von Persönlichkeitsrechtsverletzungen oder Urheberrechtsverletzungen nur die Möglichkeit zur Löschung bleibt. Dass die Möglichkeit zur Löschung, das Jahre alte sogenannte Notice-und-Takedown-Verfahren, aber weder dazu beiträgt, Urheberrechtsverletzungen noch Cybermobbing entgegenzuwirken, sollte mittlerweile jeder mitbekommen haben, der nicht die letzten Jahre unter einem Stein, oder zumindest in einer sehr dicken Filter-Bubble gelebt hat.

Es ging Spindler also nicht darum, Anonymität im Internet flächendeckend zu beseitigen, sondern lediglich eine Lücke in der Haftungslogik des Telemediengesetzes abzuschaffen, indem für anonyme Kommentare in Zukunft alternativ auch die Plattform haften kann, die ihre Nutzer aktiv anonymisiert. Zur Beibehaltung ihrer Haftungsfreistellung im TMG kann die Plattform den Nutzer dann auch pseudonymisieren. Nichts darüber steht jedoch auf Heise.de

Spindlers Vortrag enthielt auch weitere interessante Ansätze zur Urheberrechtsproblematik, und auch zur Vergütung von Nutzungen auf Online-Plattformen, die allerdings im Heise-Artikel kaum eine Rolle spielten. Entweder war Heise-Berichterstatter Krempl zu dem Zeitpunkt mal für kleine Journalisten, spielte Angry Birds oder machte was sonst immer Journalisten tun, wenn die Konzentration nachlässt: Er belässt es bei der »Zuspitzung« von sensiblen Sachverhalten, und lässt den anderen Krempel einfach weg oder formuliert so, dass niemand das Ganze versteht. 

Nach dem schlechten Bericht folgt der schlechte Kommentar

Doch ein Shitstorm ist nicht genug, und so machte sich der Berliner Richter Ulf Buermeyer zwei Tage später daran, auf Heise.de eine engagierte Verteidigung der Freiheitsrechte zu schreiben, die Spindler aber eigentlich garantiert nicht einschränken wollte. Es sei nicht das erste Mal, dass die »Urheberrechts-Lobby« die Freiheit im Netz angreifen wolle. Das Gerede über das Netz als »rechtsfreien« Raum, sei mittlerweile zu einem Meme für Ahnungslosigkeit verkommen, giftete Buermeyer, unwissend dass er selbst einer Ahnungslosigkeit anheimfällt, wenn er sich auf Krempls irreführende Berichterstattung stützt. Darüber hinaus überrascht Buermeyers Kommentar mit einer stattlichen Anzahl von Ressentiments gegen die Kreativwirtschaft, die man einem ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter des Bundesverfassungsgerichts so nicht unbedingt zugetraut hätte. Auch ignorierte Buermeyer, dass selbst der ehemalige Präsident der Akademie der Künste, Professor Klaus Staeck, ebenso wie Renate Künast – beide nicht wirklich als Büttel der Content Mafia Lobby bekannt – sich kritisch zur Anonymität im Netz geäußert hatten.

Wenn man in der Regel Richter für vorurteilsfreie Mitmenschen hält, so hat man in Ulf Buermeyer zumindest im Falle Urheberrecht die Ausnahme von dieser Regel gefunden. Besonders schändlich ist es laut Buermeyer, dass sich mit der »Urheberrechts-Lobby« eine nicht nur laustarke, sondern auch finanzstarke Lobby nun zur angeblichen Gegnerin einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung macht. Dass im Rahmen der Urheberrechtskonferenz gleich mehrfach Parallelen zwischen Urheberrechten und der Datenschutzproblematik gezogen wurden – Krempl war da wahrscheinlich gerade auf dem Klo – kann somit nicht mit ins Gewicht fallen. Auch scheint es Buermeyer entgangen zu sein, dass im aktuellen Koalitionsvertrag genau die Haftungsprivilegierung von Providern überarbeitet werden soll, die Spindler vorgeschlagen hat. Eine Diskussion zur Änderung des Telemediengesetzes ist also absolut opportun.

Viele Fragen, die Buermeyer in seinem Artikel zurecht stellt, hätten sich von selbst beantwortet, wenn der Richter sich Spindlers Vortrag selbst angesehen hätte. Denn wie eine verhältnismäßige Austarierung der Haftungsregeln aussehen kann, hat Spindler in seiner Keynote ziemlich genau beantwortet. Bei heise.de findet sich dazu leider nur eine nebulöse Umschreibung, die aus einem gut durchdachten Vorschlag lieber einen Angriff auf unsere Grundrechte macht.

Außer Shitstorm nichts gewesen? So geht das mit der Anonymität

Dem Autor dieser Zeilen missfällt, dass eine wichtige Debatte, nämlich jene über die Austarierung von Anonymität und Verantwortung im Netz, unter so ungünstigen Vorzeichen geführt wird. Besonders möchte der Verfasser abschließend vorschlagen, im Rahmen dieser dringend zu führenden Diskussion verbal abzurüsten und weder heilige Kühe noch Wissenschaftsreputationen unnötig zur Schlachtbank zu führen.

Zu einer besonnen Debatte führt dagegen eher die Frage, wie wir Anonymität eigentlich in unserer Offlinewelt austarieren, und was überhaupt die Funktion und Definition von Anonymität und Identität in unserer »Kohlenstoffwelt« ist. Der Autor dieses Artikels, der rein zufälligerweise zu genau diesem Thema publiziert hat, legt folgende Thesen nahe:

Anonymität und Identität sind Aggregatzustände von Persönlichkeit, und sowohl unsere Gesellschaft als auch das Internet funktionieren besser, wenn beide Zustände möglich sind. NUR Anonymität, oder NUR Identität als Aggregatzustände führen unweigerlich von rechtsstaatlichen Gesellschaften weg, entweder zum Überwachungsstaat oder zur Anarchie. Die Freiheit des Einen findet aber dort seine Grenzen, wo sie die Freiheit eines Anderen einschränkt. Deswegen müssen wir auch im Netz Möglichkeiten finden, Konflikte zu moderieren und im Extremfall auch zu regulieren.

Für die hier notwendige Abwägung sollten aber vor allem zwei relevante Kriterien berücksichtigt werden: Das Kriterium, ob Kommunikation in öffentlichen oder privaten Räumen stattfindet, ist eines, das Kriterium des mit der jeweiligen Handlung verbundenen Risikos das zweite. Öffentliche Kommunikation sollte also bei Risikohandlungen nicht ohne Verantwortungszuweisung stattfinden. Solche Überlegungen sehen wir nicht nur im Presserecht, oder im Straßenverkehr, sondern auch in einem anderen von Buermeyer selbst angeführten Beispiel, dem Demonstrationsrecht. Dort weist Buermeyer in seinem Kommentar ausführlich auf die zwingende Möglichkeit hin, anonym an Demonstrationen teilnehmen zu können, welche mehrfach in verschiedenen Urteilen bestätigt sei. Er ignoriert jedoch, dass es bei jeder Demonstration auch gleichzeitig zwingend eine Anmeldung und einen Veranstalter geben muss, der (bis zu einem gewissen Grade) stellvertretend für die Demonstrationsteilnehmer haftet, und gleichzeitig verantwortlicher Ansprechpartner für die Polizei sein muss. Gibt dieser Veranstalter die Verantwortlichkeit für die Demonstration auf, etwa weil Ausschreitungen drohen auf, kann die Polizei eine Demonstration auch auflösen.

Wir lernen: Ohne Haftung also keine Meinungsäußerung im öffentlichen Raum. Diese Logik hat sich in der Kohlenstoffwelt seit langem bewährt, und ist nicht wirklich verdächtig, »die Axt an die Demokratie« (Buermeyer) zu legen. Wenn stattdessen anonymer Mob jedoch auf sensationsheischende Presse trifft, dann können wir uns das mit der Meinungsfreiheit gleich schenken. Denn hier werden Diskurse nur in eine Richtung geführt: Direkt zur Schlachtbank.