Wagniskapital in Deutschland

Ideengeld

6. September 2015
von Börsenblatt
Wagniskapital ist der Treibstoff der digitalen und damit per se globalen Ökonomie. Im internationalen Vergleich hat Deutschland reichlich Nachholbedarf.

Die Idee ist folgende: Ein junger Fliesenleger kommt auf die Idee, eine eigene Firma aufzumachen. Er geht zur Bank, weil er 150.000 Euro für alles braucht – Werkzeuge, Miete, Kaution, erste Gehälter, Werbung – und bietet seinen Erbteil am Elternhaus als Sicherheit an. Die Bank rechnet nach, ob die Sicherheit auch mindestens doppelt so viel Wert ist wie der Kredit und unterschreibt. Für den jungen Fliesenleger beginnt nun ein Rennen gegen die Zeit, denn er muss genug Geld verdienen, um seine Leute zu bezahlen, sich selbst und den Kredit.

So oder ähnlich sehen fast alle Unternehmenskredite aus, das Verlustrisiko auf Seiten der Bank – immerhin der Grund für die Zinsen – ist sehr klein, ganz anders als beim Investment-Banking des gleichen Instituts, wo gern mal ohne Sicherheiten so viel verzockt werden darf, dass wir mit unseren Steuergeldern die Banken retten müssen.

Lasst die Spiele beginnen

Da die Bank also bei den Unternehmensgründern nichts wagt, gibt es Investoren, die genau auf dieses Wagnis spezialisiert sind, die sogenannten VCs, Venture Capitalists oder Wagniskapitalgeber. Sie geben Geld, meist in mehreren, immer größeren Batzen, für aussichtsreiche Unternehmensgründungen. Im Gegenzug bekommen sie keine Sicherheiten, sondern Unternehmensanteile. Wer auf diese Weise Apple, Google oder Facebook mit finanziert hat kann den Schlips abnehmen und sein Hawaii-Hemd anziehen.

Das Modell selbst ist so neu nicht, die meisten kennen es von Künstlerverträgen mit Autorinnen, Regisseurinnen oder Musikerinnen: Bei den bekanntermaßen armen Poeten, Filmemachern und Musikanten ist an Sicherheiten nichts zu holen, dafür erzeugen sie intellektuelle Produkte mit vergleichsweise wenig Aufwand und hoher Auflage. Der Verleger investiert also einen Vorschuss, in Studiozeit, in Marketing und Honorare. Wie überall in solchen Systemen wetten die Kapitalgeber darauf, dass einer von zehn das Ziel erreicht, Bestseller, Chart-Stürmer oder Konzern wird.

Soweit das Modell Wagniskapital gegen Kredit. Seit einiger Zeit läuft eine Debatte darüber, wie wichtig Wagniskapital für den Aufbau eine lokalen, nationalen digitalen Wirtschaft ist. Die Amerikaner investieren pro Jahr ungefähr zwanzig Mal so viel Kapital in IT-Startups wie die Deutschen, und der große Erfolg von Microsoft bis Twitter scheint ihnen recht zu geben. Unbestritten ist, dass große Mengen an Wagniskapital die Entwicklung von Software und den Zugang zum Weltmarkt beschleunigen, ein Vorsprung, gegen den nicht einmal die besten deutschen Internet-Firmen ankämpfen können.

Langsam aber sicher?

In Deutschland nämlich ist der Zufluss von Wagniskapital derart reguliert, dass keine ausländischer Investor, der noch bei Trost ist, in ein deutsches Startup investieren würde. Also übernimmt hierzulande wie üblich der Staat – wie üblich auch ziemlich unvollkommen – die Position der Risikofinanzierung. Er gewährt zinslose Darlehen, kommunale Bürgschaften und sogar, wenn auch ungern, echtes Geld. Natürlich nie genug und immer zu kompliziert. Während amerikanische VCs schon mal nach einer ersten Präsentation einen Scheck ziehen, müssen in Deutschland Anträge an Kommissionen gestellt werden, die häufig nicht einmal die handelnden Personen kennenlernen und erst nach Monaten reagieren: da ist eine Dropbox schon programmiert und generiert erste Umsätze – der Fairness halber sei hinzugefügt, dass mittlerweile Berlin in die erste Liga der Startup-Brüter aufgestiegen ist, unter anderem, weil Wagniskapital dort endlich frei und schnell verfügbar ist.

Das Ziel der staatlichen und kommunalen Finanzierungsmodelle scheint zu sein, solide mittelständische Betriebe zu schaffen, die dann wieder vierzig bis sechzig Leuten einen Arbeitsplatz geben. Das Missverständnis ist, dass es wie beim Fliesenleger sehr viele ähnliche Betriebe geben könnte, blühende Rosen auf einem nationalen Beet. Leider haben die digitalen Rosen wegen der Aggressivität der amerikanischen Unternehmen kaum die Zeit für eine erste Knospe: In der digitalen Wirtschaft macht nur einer das Rennen. Keine zwei Googles, kein Neben-Amazon, kein anderes Was-auch-immer. Digitale, web-basierte Produkte sind in drei Monaten programmiert und weitere drei Monate später weltweit verfügbar. Und sie sind billig zu skalieren: Eine Millionen neue Benutzer kosten Facebook vermutlich ein paar Hundert Dollar.

Es gibt also keinen Wettbewerb mehr wie bei den Autofirmen. Der Internet-Riese kauft alle anderen auf, die in eine ähnliche Richtung laufen und arrondiert sein Terrain durch monatlich drei oder vier Firmenzukäufe: der Erfolg der meisten kleinen Startups liegt darin, von den großen Ex-Startups sofort geschluckt zu werden, bezahlt mit zwei- bis dreistelligen Millionenbeträgen. Vermutlich ist es dem Deutschen unbegreiflich, dass ab einem bestimmten Punkt Kapital für einen solchen Konzern ohne Beschränkung verfügbar ist: Wer erfolgreich ist, zahlt mit eigenen Aktien.

Das Ende des Wettbewerbs

Die Idee ist einfach. Wer schnell genug wächst ist in zwei bis drei Jahren fast unantastbarer Monopolist und Marktführer. Warum sollte Amazon langsamer investieren, vor was sollte die Firma halt machen? Kein Otto, kein Walmart, kein Metro kommt mehr annähernd an die Handelsumsätze des Web-Händlers heran. Und wer sich Gedanken darüber macht, was passieren müsste, damit die wieder verschwinden, ist bei sehr seltsamen und bedrohlichen Zukunftsversionen gelandet.

Im Augenblick noch geht diese Entwicklung an deutschen Mitbürgern und Institutionen fast spurlos vorüber (bis auf den Datenschutz-Aspekt), aber Kritiker warnen schon: die disruptiven Strategien der IT-Technologie werden auch vor dem deutschen Herzblut, den Auto-Herstellern, den großen Anlagenbauern und den mittelständischen Weltmarktführern nicht halt machen. Die ersten beginnen mit Abwehrstrategien, die Autohersteller zum Beispiel kaufen mit Here die Kartendatenbank von Nokia um der Abhängigkeit von Google zu entgehen: Google ist, das mag dem ein oder anderen entgangen sein, mittlerweile angemeldeter und zugelassener Autohersteller! Und der Wettlauf geht nicht um das Navi als schönes Zubehör, sondern um die Frage, wohin ein Auto mit den Passagieren fährt, um Essen zu fassen oder Möbel zu kaufen.

Dienstleistungen wie Transporte, heiratswillige Singles oder Übernachtungen wurden bereits mit den passenden Web-Anwendungen zu international gehandelten Artikeln, mit etwas mehr Systematik könnte man fast das gesamte Branchenverzeichnis durchprogrammieren. Auch die bisher sicher geglaubten Unternehmen des primären Sektors – Banken, Stahlriesen, Stromhersteller oder Baulöwen – werden nun ins Visier genommen. Der beste Ausweg: Heftige digitale Selbst-Attacke, die Natter wird am eigenen Busen genährt und auf das eigene Unternehmen losgelassen.