"Wie wollen wir leben?" (7)

"Lernen, jemanden zu verlieren"

28. Januar 2021
von Börsenblatt

Nach den Erfahrungen der vergangenen Monate ist die Frage "Wie wollen wir leben?" drängender denn je. Welche Denkanstöße dazu in Frühjahrsnovitäten zu finden sind, zeigen wir in einer Folge, die auch Anregung für einen Büchertisch sein kann. Die heutige literarische Antwort kommt von Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert (dtv).

Der folgende Textauszug stammt aus Helga Schuberts neuem Werk "Vom Aufstehen", aus dem sie im vergangenen Jahr in Klagenfurt gelesen hatte und das am 18. März bei dtv erscheint.

"Vor ein paar Monaten hatte eine unserer älteren Pflegeschwestern angekündigt: Ich werde eine neue Kollegin mitbringen. Damit ich ihr alles zeigen kann. Hoffentlich bleibt sie bei uns, denn in der vorigen Stelle war sie nur ganz kurz. Obwohl die Schwestern den Zahlencode kennen, mit dem sie den Tresor für den Hausschlüssel öffnen könnten, sind sie von Anfang an, seit Jahren bei uns, daran gewöhnt, eine offene Haustür vorzufinden, hochgezogene Rollläden, in den letzten drei Wochen des Jahres einen leuchtenden Adventsstern am Fenster. Sie sind gewöhnt, dass es nach Kaffee duftet, wenn ich sie an der Haustür begrüße, und wie in einer Bäckerei, nach getoastetem Schwarzbrot, wenn sie sich die blauen Plastikfüßlinge über ihre Straßenschuhe ziehen, dass auf dem Rollstuhl an H.s Bett frische Wäsche liegt. Sie sind daran gewöhnt, dass ich da bin. Sie sagen, die Frisur macht Sie jünger oder Sie sehen erschöpft aus oder das Kleid steht Ihnen oder solch ein Badekleid hatte ich auch einmal, aber meine Mutter hat es in den Trockner getan, und nun ist es hin. Es sind acht mögliche Schwestern, die morgens kommen und ihm beim Aufstehen, Waschen und Anziehen helfen. Sie nennen ihn ihren Klienten.

Wir wissen vorher nie, welche kommen wird. Wenn wir manchmal schon am Frühstückstisch sitzen und das Haustürklingeln hören, dann das Haustüröffnen, ihre Straßenschuhe im Vorflur, dann fragt er mich: Wer kommt denn heute? Und ich erkenne beim Blick von meinem Frühstücksplatz um die Ecke durch die Glastür die Frisur der Schwester, die sich gerade bückt, um ihre Füßlinge überzustülpen und antworte ihm. Dann behält er den Namen, bis die Schwester an unseren Frühstückstisch tritt, begrüßt sie freundlich und fragt mich, wenn sie schon ins Bad vorausgegangen ist, aber ihn dennoch mit seiner leisen Frage hört: War die schon mal da?

Nun also die Neue. Sie ist noch in der Probezeit, sagte sie und: Ich bin nicht so eine, als ich ihr einen Rooibusch-Tee anbot für eine kurze Pause, denn sie hat nur wenige Minuten für ihre Arbeit hier und muss das alles noch in die Dokumentation eintragen. Ich fragte sie gleich bei ihrem ersten Einsatz nach den großen Tattoos auf ihren Waden, und sie antwortete, dass das Landschaftstattoos sind und dass sie für ihre beiden Kinder stehen. Da sagte sie plötzlich: Ich habe zuletzt im Hospiz gearbeitet, ich wollte unbedingt dort arbeiten, aber ich musste aufhören. Ich hatte mich mit einer Sechzehnjährigen viel unterhalten, sie hat mir so viel anvertraut. Und dann ist sie gestorben. Ich habe einfach nicht aufhören können zu weinen. Auch am nächsten Tag. Eigentlich waren sie alle zufrieden mit mir gewesen, aber die Leiterin riet mir, woanders zu arbeiten, nicht bei ihnen, wo an jedem Tag ein Mensch stirbt, manchmal schon am ersten Tag. Und hier passiert es ja nicht jeden Tag.

Sie sah uns ruhig an, meinen Mann und mich. Wenn ich jemand ins Herz geschlossen hab, sagte sie, dann muss ich erst lernen, ihn zu verlieren, das zu überwinden. Seit diesem Tag bei uns sagt sie öfter zu mir: Alles gut. So wie viele junge Frauen hier in Mecklenburg solche alten Frauen wie mich beruhigen, wenn sie an der Kasse nach ihrem Portemonnaie suchen. Sie fällt jetzt eine Weile aus, sagte ihre ältere Kollegin eines Morgens, denn sie ist im Mutterschaftsurlaub. Aber sie kommt wieder.

Alles gut."