Buchtipp

Neue Heimat für Adler, Fuchs & Co.

2. November 2007
von Börsenblatt
Fauna und Flora haben die Stadt erobert, und der Artenreichtum im urbanen Lebensraum übertrifft den der »freien Natur« manchmal um ein Vielfaches. Der Zoologe und Autor Josef H. Reichholf konfrontiert die Leser seines neuen Buchs »Stadtnatur« (oekom Verlag) mit überraschenden Befunden.
Wer hätte gedacht, dass Deutschlands Wappenvogel – der Seeadler – eines Tages auf dem Territorium der Hauptstadt brütet? Und wer weiß schon, dass Berlin von ebensoviel Nachtigallen besiedelt ist wie der gesamte Freistaat Bayern? Josef Reichholfs Beobachtungen bringen so manches Dogma des Naturfreundes ins Wanken: so etwa den Glauben, die lärmende, verschmutzte Stadt sei ein wesentlich unattraktiverer Lebensraum für Wildtiere als die freie Flur. Weit gefehlt: die Eingriffe des Menschen in die Natur, vor allem durch die Landwirtschaft, sind wesentlich gravierender als die Bebauung der Städte. Ebenso fehl geht die wohlmeinende Vorstellung, Naturschutz müsse sich auf Reservate fernab der Ballungsräume konzentrieren. Im Gegenteil: vor allem artenreiche Ödflächen mitten in der Stadt – etwa stillgelegte Industrieareale oder ungenutzte Gleisanlagen – bedürfen der genauen Beobachtung und des Schutzes. Der alte, durch romantische Vorstellungen genährte Gegensatz zwischen (kranker) Stadt und (gesunder) Natur wird durch Reichholfs Beobachtungen und Auswertungen glänzend widerlegt. Tier- und Pflanzenwelt erobern den städtischen Raum, weil er strukturierter und abwechslungsreicher ist und ein differenziertes Nahrungsangebot bietet. Hinzu kommt, dass Tiere in der Stadt nicht demselben Verfolgungsdruck ausgesetzt sind wie auf dem Land. »Stadtnatur« ist ein faktenreiches, üppig bebildertes, anregendes und gut lesbares Buch (Josef Reichholf wurde erst vor wenigen Tagen mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa ausgezeichnet). Es ist zugleich die Geschichte einer außergewöhnlichen zoologischen und botanischen Inventarisierung: Reichholf hat über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren den Bestand und die Artenentwicklung auf dem Gelände der Institution dokumentiert, die er leitet: der Zoologischen Staatssammlung München, deren Architektur und Grünflächen ein einzigartiges Stadtbiotop darstellen. Michael Roesler-Graichen Tipp: Lesen Sie auch das Porträt von Josef H. Reichholf in Börsenblatt 43 / 2007. Bibliographie: Josef H. Reichholf: Stadtnatur. Eine neue Heimat für Tiere und Pflanzen. oekom Verlag, 2007, 320 S., 160 Abb., 24,90 Euro