Analyse

Wikipedias »Stern«-Stunde

13. Dezember 2007
von Börsenblatt
Die Web 2.0-Gemeinde frohlockt: Wikipedia hat im »Stern«-Turnier den furiosen »Brockhaus« aus dem Sattel gehoben und fühlt sich geadelt. Was an dem plötzlichen Medienglanz dran ist, ob es denn mit rechten Dingen zuging, und worüber sich nun Brockhaus echauffiert, versucht BÖRSENBLATT-Redakteur Michael Roesler-Graichen zu ergründen.
Was ist eigentlich eine Enzyklopädie? Die 30-bändige »Brockhaus Enzyklopädie« definiert sie (und damit sich selbst) als »die schriftliche und komplexe Darstellung des gesamten Wissens oder des Wissens eines Fachgebietes«. In der »freien« Online-Enzyklopädie Wikipedia liest man es ganz ähnlich: Die Enzyklopädie wird dort bestimmt als »ein Nachschlagewerk, das alle Gebiete menschlichen Wissens strukturiert und umfassend darstellt«. In einem entscheidenden Punkt unterscheiden sich jedoch beide Einträge: Während Wikipedia historische und aktuelle Enzyklopädien wie den großen »Brockhaus« aufführt und in einer Tabelle vergleicht, wird Wikipedia im »Enzyklopädie«-Artikel der 21. Auflage der »Brockhaus Enzyklopädie« mit keiner Silbe erwähnt (dafür gibt es an anderer Stelle einen Eintrag »Wikipedia«). Daher haben es viele Wikipedianer als Genugtuung empfunden, dass ihr Projekt mit der Schützenhilfe des Wochenmagazins »Stern« jetzt einen Sieg über den mächtigen Konkurrenten aus der Print-Welt davongetragen hat. Ob es nur ein PR-Sieg war oder gar nur ein Pyrrhus-Sieg, wird sich noch zeigen, spätestens dann, wenn Brockhaus »seine Online-Auftritte in Richtung Aktualität verbessert hat«, wie B.I. & F.A. Brockhaus-Sprecher Klaus Holoch ankündigt (siehe Börsenblatt 50 / 2007). Jedenfalls kann sich der »Stern« über eine tolle Titelstory freuen, während der ein oder andere Buchhändler im Stillen flucht, dass ihm das Geschäft vermasselt wird. Welches Motiv den »Stern« zu dem Test bewogen haben mag – ob Sympathie für das Wikipedia-Projekt, ob Instinkt für die Quote oder die Liebe zur vorurteilsfreien Recherche –, die Sache hat einen Schönheitsfehler: Der vom »Stern« beauftragte Wissenschaftliche Informationsdienst (WIND) wählte die 15-bändige Ausgabe des »Brockhaus« als Vergleichsmaßstab – mit der Begründung, nur sie stehe online zur Verfügung. Das mag zwar zutreffen, doch ein quantitativer wie qualitativer Vergleich hätte nur zu brauchbaren Ergebnissen geführt, wenn WIND die Online-Version der 21. Auflage der »Brockhaus Enzyklopädie« in 30 Bänden getestet hätte. Denn dieses Spitzenprodukt der Mannheimer und Leipziger Verlagstruppe ist nicht nur wesentlich umfassender, sondern auch dank regelmäßiger Online-Updates wesentlich aktueller als der 15-Bänder. Das WIND-Argument, nur der 15-Bänder sei allgemein zugänglich, klingt wenig überzeugend. Würde man etwa in einem Vergleich verschiedener Fernsehsender »Premiere Star« ausschließen, weil es nur mit Decoder zu empfangen ist? Also: Hier kann man schon Klaus Holochs Bemerkung beipflichten, WIND habe »Äpfel mit Birnen« verglichen. Und doch wird Brockhaus sein Geschäftsmodell prüfen müssen: Es reicht nicht, Inhalte bestehender Substanzen eins zu eins online zu vermarkten. Wenn der 15-bändige Brockhaus und die zahlreichen Fachlexika (wie der Brockhaus Naturwissenschaft und Technik) schon gegen Bezahlung ins Netz gestellt werden (unter www.brockhaus.de/nachschlagen), müssen die Artikel auf dem aktuellsten Stand sein – sonst könnte das Premium-Produkt gegenüber Wikipedia tatsächlich ins Hintertreffen geraten. Bei Meyers online 2.0, dem um interaktive Elemente in Wiki-Manier erweiterten Internet-Lexikon, wird dies doch mit Erfolg vorexerziert. Das bedeutet natürlich, dass Brockhaus-Redakteure künftig im Idealfall rund um die Uhr mit Aktualisierungen befasst sein müssten – ein personeller Aufwand, der im Gegensatz zur Gratis-Mitarbeit der Wikipedianer natürlich ins Geld geht. Und nun zu Wikipedia: Da prallen zwei Meinungen aufeinander. Der Marktführer Brockhaus beansprucht für sich die Deutungshoheit. Er bestreitet, dass Wikipedia überhaupt eine Enzyklopädie sei. Was ist Wikipedia dann überhaupt? Nur ein Web 0.0, wie Bernd Graff jüngst einen bissigen Artikel in der »Süddeutschen Zeitung« betitelte? Eine Wissenskloake, in die jeder sein (überflüssiges) Privatwissen kippen kann? Das wäre zu einfach – denn Wikipedia ist als Nachschlagemedium allgemein akzeptiert. Das zeigen die im »Stern« abgedruckten Pro-Wikipedia-Testimonials, über die sich auch der Marketing-Leiter von Brockhaus gefreut hätte. Zum letzten Mal: Was ist Wikipedia? Sicher ein Projekt, dass das Wissen der Welt ordnen und strukturiert darstellen möchte, eine Enzyklopädie in statu nascendi, eine encyclopedia in progress. Ein Nachschlagewerk, dessen Entstehungsprozess die Nutzer beobachten und den sie selbst als Autoren und Administratoren beeinflussen oder sogar steuern können. Das Internet und die Wikipedia-Community versuchen hierbei den in der Print-Welt üblichen Produktionsprozess zu substituieren, an dessen Ende traditionell das fertige Produkt, die qualitätsgeprüfte Enzyklopädie steht. Und genau an diesem Punkt unterscheiden sich Wikipedia und die Brockhaus Enzyklopädie ganz wesentlich: Das aus der Printwelt kommende Produkt will sicheres, proportioniertes, relevantes und nachhaltiges Wissen liefern – und muss bei der Aktualität Abstriche machen (die sie allenfalls online wieder ausgleichen kann). Wikipedia möchte den gleichen Kriterien genügen oder standhalten, ist aber erst auf dem Weg dorthin. Noch gibt es nur wenige »stabile«, fertige Artikel. Noch ist die Zahl der »lesenswerten« oder der »exzellenten« Artikel zu niedrig, als dass Wikipedia wirklich eine verlässliche und zitierfähige Wissensquelle sein könnte. Und – wirklich entscheidend – noch fehlt trotz aller Kontrollmechanismen der konzeptionelle Gestalter, der dem Online-Produkt eine verbindliche Form sowie ein klar erkennbares Profil gibt und vielleicht auch Umfangsgrenzen festlegt. Denn noch überwiegt der Eindruck, man habe es mit einem Sammelsurium zu tun, in dem sich Universallexikon und jede Menge Spezial-Nachschlagewerke treffen. Es fehlt also die Disziplin, dem notwendigen Wissen den ihm zustehenden Platz zuzuweisen und das ephemere »Wissen« herauszufiltern. Denn – das bedeutet »Enzyklopädie« in seiner Grundbedeutung – der Kreis der Bildung muss (zumindest vorläufig) einmal durchschritten worden sein, um ein Nachschlagewerk zu schaffen, dass eine Repräsentation des Weltwissens darstellt – eine Abbildung der Wirklichkeit, die natürlich Zeitströmungen und geschichtlichen Veränderungen unterworfen ist und daher ständig neu angelegt werden muss.