Meinung

Auch Laien sind vom Fach

24. Juli 2015
von Börsenblatt
Buchkritiken: Das wahre Urteil ist am Ende die Summe aller Urteile. Von Jochen Jung.
Wer liest, rezensiert, so ist das. Genau das macht nämlich das Wunder des Lesens aus, dass die Nervenbahnen unserer buchstabierenden Augen ein direkter Draht zu Hirn und Herz sind, dorthin melden, was sie außen wahrgenommen haben, um dann von innen eine Rückmeldung zu bekommen, wie über das Gesehene gedacht und geurteilt wird. Wir machen das ständig, von morgens bis abends, von »Hab ich ausgeschlafen?« über »Wie ist das Wetter?« bis zu »Wie war das Essen? Wie ist der Wein?« und nicht zuletzt »Wie fandest du den Film?«. Ohne das parallel zu unserem Tun und Treiben laufende Bewertungsprogramm wüssten wir schon am nächsten Tag nicht mehr, wie wir uns anziehen sollen und ob wir nicht gleich beim Frühstück unserem Gegenüber sagen sollten, dass er stört. Wir urteilen immer, und zwar ohne jede Rücksicht darauf, ob wir uns in dem betreffenden Gebiet tatsächlich auskennen oder nicht. Am schmerzlichsten ist das ohne Frage im Hinblick auf unsere Mitmenschen. Bekanntlich ist Menschenkenntnis etwas vom Seltensten, aber hält das irgendwen davon ab, von seiner Nachbarin oder seinem Nebenmenschen schon nach wenigen Minuten (Sekunden?) zu meinen: ›Volltrottel. Soll bloß nicht denken, ich merk’s nicht‹ usw. Oder umgekehrt: Liebe auf den ersten Blick – ist es ein Wunder, dass das fast immer schiefgeht? Aber egal, wie gut wir urteilen, wir tun es leidenschaftlich. Und sollten es ausgerechnet bei den Dingen nicht tun, die uns mit großen Augen anschauen und mit einem Blick, der fragt: Wie findest du mich? Ich rede natürlich von der Kunst. In der Kunst ist nämlich jeder Fachmann. Und das aus einem einfachen Grund: Sie wendet sich auch an alle. Fast alle jedenfalls. Bei Filmen liest man ja gelegentlich: erst ab 16. Aber haben Sie schon mal ein Buch aufgeschlagen, wo drinsteht: nur mit Abitur? Also. Dann sollten Sie, im Ernst, auch nicht haben, was Sie sowieso nicht haben: Hemmungen. Urteilen Sie einfach drauflos, wie die andern. Das Entscheidende ist natürlich, dass es mit dem Urteilen allein nicht getan ist: Man muss es auch kundtun. Denn jeder, der urteilt, weiß, dass er nicht der Einzige ist, der es tut, dass er sich vielmehr in einer Competition befindet, ständig. Das wahre Urteil ist ja am Ende die Summe aller Urteile, da zählt also jedes einzelne mit, und also muss die Welt es erfahren, damit sie am Ende der Weltgeist wird. Und der tummelt sich scheinbar seit einiger Zeit mit Vorliebe im Internet, man muss das hier nicht ausführen. Allüberall wird man herzlich gebeten, seine Meinung doch bitte schriftlich zu deponieren, von Amazon bis zur »FAZ«, und ich denke, man sollte das auch tun: Die eigene Meinung zu formulieren schärft das Denken, etwas über Bücher zu sagen übt das Lesen, stärkt das Selbstbewusstsein, intensiviert die Lust am Buch und hebt die Wichtigkeit der Literatur. Was will man mehr? Ja, es ist gut, das alles zu schreiben. Etwas weniger gut ist es vielleicht, das alles auch zu lesen. (Ich soll als Kind ganz manierlich Blockflöte gespielt haben. Einmal auch öffentlich: im Kindergarten. Meine Mitkinder haben mich wohl nicht so gut gefunden, die Mütter hingegen schon. Sie fanden meine abstehenden Ohren so lustig.) Was halten Sie von Laienrezensionen? Können sie zur Orientierung dienen?