Porträt

»Das macht der Klaus«

24. Juli 2015
von Stefan Hauck
Am 3. Juli wäre Franz Kafka 125 Jahre alt geworden. Seine dienstälteste Witwe, der Berliner Verleger Klaus Wagenbach, wird heute 78. Und ist als Autor, Literaturwissenschaftler, Altlektor rührig wie eh und je: Was immer dieser Mann ist, er ist es mit Herzblut. Ein Porträt
»Die Hälfte ist geschafft!« ruft der Verleger und streckt die rotbestrumpften Füße – unverkennbares Markenzeichen seit 40 Jahren – von sich. 22 sorgfältig edierte Bände von Giorgio Vasaris Künstlerviten hat Klaus Wagenbach seit 2004 herausgebracht, 44 werden es. Die Edition fiel unter die so genannte Herzklausel: »Wenn wir uns in der Lektoratsrunde nicht einigen können und ein Lektor sagt, das Buch sei für ihn eine absolute Herzensangelegenheit, dann gilt das Manuskript als angenommen, Rechtsmittel sind unzulässig. Und bei Vasari bin ich sofort in die Runde gestürmt und habe ›Herzklausel!!!‹ geschrien.« Vor sieben Jahren hat Wagenbach die Geschäftsführung des von ihm 1964 gegründeten Verlags in die Hände seiner 32 Jahre jüngeren Frau Susanne Schüssler gelegt, die dort 1991 als Pressereferentin angefangen hatte. »Den Wechsel haben wir gut hingekriegt«, bilanziert er zufrieden. »Ein drohendes Frankfurter Beispiel vor Augen habe ich gesagt: Den Fehler machst du nicht. Satzungen haben ein schnelleres Verfallsdatum als das Vertrauen in eine Person.« Jetzt ist Wagenbach »Altlektor, und ich stehe als Feuerwehr bereit. Bei schwierigen Autoren und hysterischen Übersetzern sagen alle gern: Das macht der Klaus.« Lebenslanges Faszinosum Gerade hat er eine Neuausgabe seiner Kafka-Bildmonografie veröffentlicht, mit neuen Fotos aus seinem in mehr als fünf Jahrzehnten entstandenen riesigen Kafka-Bildarchiv. Seine Sammelleidenschaft hat sich entwickelt »durch Geduld, höfliche Fragen und viele Ankäufe.« Unvermindert ist »Kafkas dienstälteste lebende Witwe«, wie sich Wagenbach bezeichnet, von dem Literaten fasziniert: »Er hat sich auf die Moderne in all ihren Facetten eingelassen, er war der einzige bürgerliche Schriftsteller, der unzählige Fabriken von innen gesehen hat.« In Kafkas Leben hat Wagenbach sich hineingefressen. Intensiv. Der große Tübinger Germanist Hans Mayer bezeichnete Wagenbach Ende der 90er als »einen der besten und gebildetsten deutschen Literaturwissenschaftler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts«. Begonnen hatte das Interesse, als Wagenbach angehender Verlagsbuchhändler bei S. Fischer war. Hersteller Fritz Hirschmann gab ihm ein schäbiges Kafka-Büchlein mit der Aufforderung: »Bub, schätz’ das mal!« Schon beim Zeilenzählen des ersten Satzes war er »von dem extrem klaren, kühlen, wunderbar kleistischen Deutsch« begeistert. »Dann habe ich mich gefragt: Was war das für ein Mann?« Von Ki ist es nicht weit bis Ka Die mühsame Suche nach Kafkas Ursprüngen führte Wagenbach in Archive nach Israel, wo er viele Zeitzeugen befragte, und in die Tschechoslowakei: »Über dem Land lag noch der Leichengeruch von Stalin. In den Archiven habe ich gesagt, ich forsche über Egon Erwin Kisch. Wo Ki lag, war auch Ka wie Kafka nicht weit. Mein größter Fund, Kafkas Personalakte, ist der Unwissenheit eines Archivars zu verdanken – der kannte Kafka nicht.« Schließlich promovierte Wagenbach 1957 über Kafka und schrieb die Biografie von dessen Jugend. Und wie sah die Jugend des Verlegers aus? Geboren 1930 in Berlin als zweiter Sohn des Sekretärs des Bundes deutscher Bodenreformer, ist er in der katholischen Josefsiedlung in Tegel aufgewachsen. Als die Bodenreformer 1933 mit der nazistischen Siedlungsbewegung zwangsfusionierten, wurde sein Vater Joseph entlassen. »Meine Mutter wollte, dass er wegen des Arbeitsplatzes in die Partei eintrat, aber das lehnte er ab. Es war nicht eben so, dass man gar nicht anders konnte.« So arbeitete er fortan im Keller einer Bank als Aktenräumer. Als der Vater schon 80 war, erfuhr sein Sohn zu seinem Erstaunen, dass er in gar keiner Krankenkasse sei. »Wir hatten einen sehr tüchtigen jüdischen Arzt«, erinnerte ihn der Vater, »aber die Nazi-Krankenkassen haben dessen Rechnungen nicht akzeptiert. Wozu hätte ich also in der Kasse sein sollen? Da bin ich ausgetreten.« Und der Großvater hatte über seiner Haustür die Inschrift »Et si omnes ego non« (Und wenn alle – ich nicht) anbringen lassen. Nie gegen seine Überzeugungen – da wird klar, von wem Klaus Wagenbach seine Beharrlichkeit hat. Stirn nähen ohne Betäubung Zuhause allerdings hatte Mutter Margarete die Hosen an. »Ich entsinne mich noch an eine Szene, wo mein Vater meiner Mutter widersprochen hat, zitternd vor Angst und sich am Tisch festhaltend. Streiten lag ihm nicht.« Die Mutter bestimmte denn auch, dass Klaus wie sein älterer Bruder Bernd 1940 auf das Französische Gymnasium gehen sollten, abseits eines Führer-befiehl-Alltags. »Zur HJ bin ich einfach nicht hingegangen.« Als das Zuhause 1943 zerbombt wurde, zogen Mutter und Söhne nach Hundsangen bei Limburg, »ein rabenschwarzes Dorf im Westerwald, wo jeder zweite Wagenbach hieß: Mein Vater stammte von dort.« Der Junge lernte, wie man Kühe melkt, kümmerte sich begeistert um Kaninchen, die späteren Symboltiere des Verlags. Am 4. Februar 1944 hatte er einen schweren Fahradsturz, Gehirnerschütterung, die Stirn klaffte auseinander, er wurde bei vollem Bewusstsein operiert – Betäubungsmittel waren in diesen Kriegstagen nicht aufzutreiben. »Damals hab ich gelesen wie ein Verrückter, 30 Bände Karl May und alles, was ich aus Leih- und Schulbibliotheken kriegen konnte.« Gegen Kriegsende zog die Familie in eine behelfsmäßige Bretterbude im hessischen Lich. Der dort lebende Großvater hörte ungeniert BBC. »Glenn Miller fand ich toll und wartete seitdem darauf, dass die Amerikaner nun endlich kommen.« Nachdem Wagenbach die völlig abgerissene deutsche Wehrmacht hatte abziehen sehen, rollten einen halben Tag später US-Panzerkolonnen durchs Tal. »Dann ging einer der Panzerdeckel auf, und was kam raus? Musik von Glenn Miller! Für mich«, konstatiert Wagenbach, »ist es eine Befreiung gewesen. Ich mache heute noch an jedem 8. Mai eine gute Flasche Rotwein auf.« Apothekergehilfe und Schrottler Da die Schulen geschlossen blieben, ging der 14-Jährige in die Webersche Hofapotheke in Lich und fragte, ob er nicht hier arbeiten könne. »Wir haben Digitalis in den Wäldern gesammelt, um Arznei herzustellen.« Der Apotheker bat ihn, sein Vater solle den gesamten verfügbaren Alkohol für die medizinische Versorgung beschlagnahmen – der war nämlich, in letzter Minute aus dem brennenden Berlin geflohen, ein wichtiger Mann geworden. »Er hat im Kreis die CDU mitbegründet, und plötzlich sagte ein US-Offizier zu ihm: You are the Landrat. Er sollte im Landkreis Gießen die Demokratie aufbauen.« Was der Junge ebenfalls lernte, war das »Schrotteln« mit Armeeware auf dem Schwarzmarkt. »Ich kam so zu Lebensmitteln; damals war ich ja unendlich mager. Kondome zum Beispiel hatten den höchsten Tauschwert, dabei wusste ich noch gar nicht, was das war.« Kurze Zeit später zog die Familie nach Hofheim am Taunus. Als er dem Vater, nun Landrat im Main-Taunus-Kreis, das Versprechen zu einem Studium gegeben hatte, durfte er als Lehrling bei S. Fischer anfangen. Autoren wie Saroyan, Faulkner, Seghers und Weisenborn hatten es ihm angetan, auf Zeitungspapier gedruckt. »Das war die Demokratisierung von Inhalten, und ich wollte in so einen wunderbaren Beruf.« 1949 begann er in Frankfurt zu studieren, Archäologie, Kunstgeschichte, Sprechkunde, Germanistik – »ich hatte eine riesige Wissensneugier. Die Germanistik war damals verseucht, je brauner die Professoren waren, um so mehr priesen sie die werkimmante Interpretation.« Mit dem Fahhrad durch Italien Fuhr er anfangs noch öfters 20 Kilometer mit dem Fahrrad nach Frankfurt und abends wieder zurück, mietete er sich bald eine Studentenbude. Zwei Semester studierte er in München: ein Stück näher an Italien. Das Fahrrad wurde zum trauten Begleiter: Wagenbach radelte durch Frankreich, Spanien und immer wieder Italien, das sich »herrlich gastfreundlich« zeigte. Die Italiensehnsucht hatte zwei Gründe: »Zum einen die Kunst, ich wollte die Originale sehen. Zum anderen hat mich interessiert, wie unsere Mitfaschisten mit der Politik umgehen – was die Italiener eine peinliche Frage fanden. Aber der Umgang mit dem politischen Gegner ist dort anders: Bei uns wird ein einer Diskussion bis aufs Messer gestritten, das hat etwas Letales. In Italien sagt jeder seine Meinung, der andere macht die Ohren zu, dann umgekehrt, und anschließend gehen beide miteinander essen. Das ist als Diskussion unfruchtbar, aber als Zuhörer kann man die Positionen viel besser abwägen.« Wovon Klaus Wagenbach überzeugt ist, dafür streitet er, auch gesellschaftspolitisch. Als er 1963 schriftlich protestierte, dass ein DDR-Verleger auf der Frankfurter Buchmesse verhaftet worden war, warf ihn der neue S.Fischer-Besitzer Georg von Holtzbrinck kurzerhand raus. »Was mache ich nun, dachte ich, als Lektor für deutsche Literatur mit drei Kindern?« Erfahrungen weitergeben 1954 hatte er seine in der Berufsschule kennengelernte Frau Katja geheiratet, von der er sich in den 70er Jahren trennte und die heute Verlegerin der Friedenauer Presse ist. Nein, geplant war die Verlagsgründung 1964 nicht, »Wir waren zu zweit, ich hab mir meine Sekretärin von Fischer und einen Lehrling geholt und – fehlte nur noch das Geld!« Der Gründungsmythos von der Wiese, die ihm der Vater schenkte, die Schriftsteller wie Grass, Bobrowskki, Bachmann, die ihm alle ein Buch zur Veröffentlichung gaben, der Trick, dass jeder Titel eine Nummer hatte und die Buchhändler zum Bestellen der gesamten Reihe trieb, all das ist bekannt. Dann kamen die Anfeindungen. »In den 70ern saß ich mehr im Gerichtssaal in Moabit als im Verlag, ich bin wegen der albernsten Sachen verknackt worden.« Zum Glück hatte er Otto Schily, den späteren Bundesinnenminister, zum Anwalt: »Es gibt – bleiben wir milde – gewisse Zeiten, in dem man keine Prozesse gewinnen kann. In Westberlin regierte der Antikommunismus, die Absicht der Staatsanwälte war, den Verlag zu schließen. Davor hat mich Otto bewahrt.« Aus vielen seiner Lehrlinge sind inzwischen berühmte Leute geworden, Wagenbach ohne Lehrling, das gibt es nicht. »Ich war immer dafür auszubilden, weil ich selbst gut ausgebildet worden bin. Wie soll’s denn sonst weitergehen im Buchhandel, sollen nur noch Betriebswirtschaftler die Branche dominieren?« Man muss auch Ehrenämter übernehmen, ist Wagenbach überzeugt; jahrelang war im Berliner Landesverband des Börsenvereins aktiv, saß im Rundfunkrat und im Kontrollausschuss des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, führte den neugierigen Nachwuchs in die Geheimnisse von Literatur, Typografie und Buchhandel ein. »Man verkommt nicht, es ist gesellschaftlich notwendig und zudem eine Selbsterfahrung – man muss sich mit Leuten auseinandersetzen, deren Meinung man nicht teilt.« Und: »Ein Verleger darf kein Eremit sein.« »Il nostro cavaliere« Heute ist seine Frau die Verlegerin, aber Wagenbach hat immer noch tausenderlei Aufgaben, darunter so angenehme, wie die elfjährige Tochter Helene abzuholen. Zwei bis drei Monate im Jahr verbringt er in seinem Haus mit kompletter Bibliothek in einem toskanischen Dorf, wo ihn die Bewohner nur respektvoll »il nostro cavaliere« nennen – schließlich hat ihn die italienische Republik mit dem Ordine al Merito ausgezeichnet. »Erstens ist die frugale Küche der Toskaner außerordentlich, zweitens sind die Toskaner Skeptiker, und drittens geht dort künstlerisch alles nach »dem gleichen Model«, wie Jacob Burckhardt sagte, jedes Dorf steckt voller Kunstwerke«, lobt Wagenbach die Vorzüge, die ihn dorthin führen. Er liest und spricht fließend Italienisch, wobei er einschränkt: »Ich beherrsche ein auf den Reisen erworbenes Fahrraditalienisch. ›Können Sie mir einen Schraubenzieher leihen?‹ geht perfekt, beim Konjunktiv hänge ich hingegen völlig in der Luft ... – oh«, sagt er und schaut auf die Uhr, »ich muss ja Helene abholen!«