Interview

Urs Engeler über die literarische Produktivität in Zeiten der Wirtschaftskrise

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass der Verlag Urs Engeler Editor (Basel/Weil am Rhein) sein Programm voraussichtlich zum Jahresende einstellen muss. boersenblatt.net sprach mit dem Verleger.

Was genau ist passiert?
Urs Engeler: Ich habe einen Tag, bevor die Vorschau in Druck gegangen ist, erfahren, dass es Schwierigkeiten geben wird. Der Mäzen, der den Verlag seit 13 Jahren unterstützt, hilft noch beim aktuellen Herbstprogramm, wird sich aber danach zurückziehen. Ich hatte den Autoren freigestellt, ob sie das überhaupt gut heißen, oder ob sie sich mit ihren Büchern neue Verlage suchen wollen. Was niemand wollte – insofern erscheint das Herbstprogramm im vorgesehenen Umfang. Mich freut die Solidarität meiner Autorinnen und Autoren natürlich – aber es ist auch eine grosse Verantwortung. Da gibt es zum Beispiel ein Buch von Ulrich Schlotmann, „Die Freuden der Jagd“...

Ein Mammut von 1100 Seiten...
Engeler: Der Mann hat 10 Jahre seines Lebens hineingesteckt. Kein anderer Verlag würde es wahrscheinlich machen, obwohl es für mich eines der ausgeklügeltsten Prosawerke deutscher Sprache ist. Ein halbes Wunder! Aber so, wie der Buchmarkt gegenwärtig funktioniert (oder nicht funktioniert), wird es nicht einfach sein, die Leser dafür zu finden. Wir stecken ja nicht nur in einer Wirtschaftskrise, sondern in einer umfassenden geistigen Krise. 

Ihre Vertreterinnen haben das Herbstprogramm also in der Tasche. Wie geht’s weiter?
Engeler: Das wichtigste für mich ist momentan, dass der Buchhandel nicht denkt: Aha, den Verlag gibt’s eh’ in einem halben Jahr nicht mehr – also ersparen wir uns auch das Wenige, was wir bisher bestellten. Das wäre fatal! Nur, um mal eine andere Zahl zu nennen: Wenn von jedem Buch, das ich im Buchhandel absetzen konnte, noch ein Exemplar nachbestellt worden wäre, wären wir nicht in der Bredouille. Wenn sie dieses eine auch noch streichen, potenzieren sich natürlich die Schwierigkeiten. Wenn sie das verkaufte noch mal nachbestellen, möglicherweise sogar ein zweites versuchen – dann könnten wir weiter machen. So banal ist das. Ansonsten werde ich natürlich alles tun, um die Bücher lieferbar zu halten. Ich will ja weiter machen, ich möchte, dass diese Bücher gelesen werden.

Ihre Zeitschrift „Zwischen den Zeilen“ hoffen Sie zu erhalten?
Engeler: Die Zeitschrift existierte bereits unabhängig von dem Mäzen. Ich möchte mit ihr unbedingt weiter machen, schon aus inhaltlichen Gründen: Die deutsche Lyrikszene, die junge zumal, ist unglaublich reich. So gesehen ist die Zeitschrift mit ihrem halbjährlichen Erscheinungsrhythmus fast überfordert gewesen. Es gibt so viele Sachen, denen man eine Bühne bieten kann. In der Schweiz werden wir gefördert, vor allem von der Migros, wir können sogar – was in diesem Bereich nicht üblich ist – Autorenhonorare zahlen. Heft 30 wird im Juli erscheinen, ein Heft zur zeitgenössischen dänischen Lyrik. Dann fange ich eigentlich neu an. Ich werde mich auf jüngere deutschsprachige Autorinnen und Autoren konzentrieren; möglicherweise in einem größeren Umfang: Viele haben ja Schwierigkeiten, überhaupt publiziert zu werden. Vielleicht müssen wir ganze Gedichtbände in dieser Zeitschrift aufnehmen. Ich habe etliche Projekte im Kopf – Projekte, die vielleicht eine Antwort auf die Misere geben können, in der Verlage wie der meine seit Jahren stecken. Vielleicht muss man nach so einem Bruch die eingespielten Routinen verlassen.

In Deutschland hat Daniela Seel von Kookbooks zuletzt mit ihrer Aktion „Kunst braucht Mäzene“ für Aufsehen gesorgt. Im Licht Ihrer Erfahrungen scheint das mäzenatische Modell nicht das allein selig machende zu sein?
Engeler: Es war wohl singulär, dass eine Einzelperson so lange und treu zum Verlag gehalten hat. Sie ist auch nicht ausgestiegen, weil sie der Sache plötzlich müde geworden wäre. Paradoxer Weise ist der Verlag, der nie Gewinn gemacht hat – ich habe 15 Jahre unentgeltlich gearbeitet – in gewisser Weise auch vom Finanzmarkt abhängig gewesen.

In Deutschland setzt man auf das freie Spiel der Marktkräfte – gebändigt von der Preisbindung.
Engeler: Das, was ich auf dem Markt erwirtschaften konnte, entspricht exakt dem, was ich aufwenden musste, um diesen Markt zu erreichen. Ein Nullsummenspiel. Wie gesagt: Wenn der Buchhändler ein zweites Exemplar bestellt hätte, hätte ich die Druckkosten bezahlen können. Bei einem weiteren hätte ich sogar einen Lohn für meine Arbeit gehabt. Das sind die Relationen, in denen ich gefangen bin.

Gehören Sie jetzt zu den „Helden des Rückzugs“, von denen Enzensberger einmal sprach?
Engeler: Ich spreche ganz bewusst nicht davon, dass ich den Verlag „schließe“. Offenbar gibt es nur diese Kategorien, eine Sache zu verstehen. Ich habe mehrere Projekte, die ich weiter verfolge. Die Zeitschrift, die Andrea-Zanzotto-Werkausgabe, da sind wir jetzt bei Band vier. Und ich werde sicher diese neun Bücher des Herbstprogramms machen. Dafür wird es auch weiterhin ein Verlagsgefäß geben. Mir scheint das ein guter Slogan, wenn ich sage: Wir gehen von der Phase der Produktion zur Rezeption. Ich habe in den letzten drei Jahren jeweils 20 Bücher gemacht, ein enormer Ausstoß für ein Ein-Mann-Unternehmen. Warum jetzt nicht ein paar Jahre lang weniger machen, um selbst Raum zu geben, damit man diese 60 Bücher lesen kann? 

 

Engeler, Jahrgang 1962, begann 1992 mit der Herausgabe der Zeitschrift "Zwischen den Zeilen"; seit 1995 hat der daraus entstandene Verlag mit mäzenatischer Unterstützung mehr als 60 Autoren aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich, USA und Italien herausgebracht – von Urs Allemann über den rumänischen Surrealisten Gellu Naum bis hin zum italienischen Jahrhundert-Poeten Andra Zanzotto; dazu mit Elke Erb, Michael Donhauser oder Ulf Stolterfoht einige der interessantesten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartslyrik. 2007 wurde Engeler mit dem Förderpreis der Kurt-Wolff-Stiftung ausgezeichnet, 2008 erhielt er den Baden-Württembergischen Landespreis für literarisch ambitionierte Verlage.