Ausnahmezustand. Gespräch mit Herta Müllers Hörbuchverleger Klaus Sander

"Geschlafen habe ich noch nicht"

10. Oktober 2009
von Börsenblatt
Klaus Sander hat ein Hörbuch produziert: „Die Nacht ist aus Tinte gemacht. Herta Müller erzählt ihre Kindheit im Banat“, das seit Donnerstag viele Menschen haben wollen. Wir treffen uns am Freitagabend in einem italienischen Restaurant. Sander hat gesagt, er müsse endlich etwas essen. Verabredet waren wir für die Mittagszeit. Doch der Verleger musste absagen, er konnte nicht weg, nicht vom Telefon, nicht vom Computer, nicht aus dem Verlag. Er ist ein bisschen blass, aber erstaunlich wach, trotz allem.

Wie haben Sie die letzten Stunden verbracht, seit Donnerstag 13 Uhr?

Sander: Wach und ein bisschen auch wie in Trance. Man versucht zu bewältigen, was möglich ist und weiß oft nicht recht, wo anfangen. Gar nicht so leicht, einen klaren Kopf zu bewahren, so etwas wie einen Überblick. Geschlafen habe ich jedenfalls noch nicht. Das Telefon klingelt ständig, Kuriere kommen vorbei, den E-Mails kann man zuschauen, wie sie reinkommen. Die Nobelpreis-Verkündungen seit Montag habe ich mir alle live im Netz angeschaut, Medizin, Physik, Chemie. Allerdings eher nebenbei, so wie Radio, obwohl: Donnerstag war ich schon sehr gespannt, wer es wird. Und genau in dem Moment, als die Musik aufhört und Gemurmel laut wird, die Verkündigung also unmittelbar bevorsteht, klingelt es an der Tür und es kommt eine Lieferung. Als ich zurückkomme, höre ich nur Beifall, und dann sagt der Sprecher: und jetzt auf Deutsch... Der erste Gedanke war eigentlich nur: Jaaa! und eine riesige Freude. Ich wusste gar nicht, was ich zuerst machen sollte, eigentlich Herta anrufen.

Haben Sie denn mit ihr telefoniert?

Sander: Nein, das will ich lieber in Ruhe und mit etwas Abstand machen. Ich habe ihr in der ersten Euphorie gleich eine kurze Glückwunsch-Mail geschickt und dann in der Nacht, gemeinsam mit meinem Freund Thomas Böhm, noch eine. Man kann sich das wohl nur schwer vorstellen. Es ist ja eigentlich unzumutbar, nahezu unmenschlich, was sie da jetzt zu bewältigen hat, was jetzt über sie hereinbricht. Ich habe das im letzten Jahr ein bisschen miterlebt, als Harald zur Hausen den Medizinnobelpreis bekommen hat, mit ihm hatten wir ja auch, genau wie jetzt mit Herta Müller, wenige Wochen vorher eine CD veröffentlicht. Das war einfach unglaublich. Er hat das damals mit großer Ruhe und Souveränität gemacht. Aber Herta Müller wirkt ja rein physisch etwas zerbrechlich, obwohl sie natürlich eine ungeheure Persönlichkeit und auch Präsenz hat. Drücken wir ihr die Daumen... 

Wann gibt’s die zweite Auflage des Hörbuchs?

Sander: Die ist schon seit Donnerstag, kurz nach Bekanntgabe, in der Produktion. Und ich hoffe natürlich, dass es sehr schnell geht, wir rechnen damit, dass die CD gegen Ende der Woche wieder lieferbar sein wird. Nachdem die 2000 Exemplare der ersten Auflage sofort weg waren, werden gerade 5000 nachproduziert. Es lässt sich schwer kalkulieren, aber ich habe auch gar nicht groß nachgedacht, dafür war keine Zeit, man entscheidet das halt irgendwie. Auf die Meldung hin reagieren ja auch die Großhändler und Zentraleinkäufer, während man sich sonst oft genug eher wie sein eigener Bauchladen-Verkäufer vorkommt... 

Wie kam es überhaupt zu der Hörbuchproduktion mit Herta Müller? 

Sander: Nun, alle Produktionen erwachsen immer aus dem bisherigen Programm, sie entstehen nie am grünen Tisch oder aus Anfragen oder Angeboten, und ergeben sich aus bestimmten ästhetischen Fragestellungen heraus, nicht aus ökonomischer Strategie. Allen supposé-CDs zugrunde liegt der Versuch, eine eigenständige Kunstform für das frei gesprochene Wort zu entwickeln. Es handelt sich also nicht um vorgelesene oder dramatisierte Texte, sondern um den Versuch, aus einer Gesprächssituation heraus zu einer eigenen Form der Darstellung zu finden, einer tatsächlichen "Erzählung", ganz im wörtlichen Sinn. Und nach dem großen Experiment mit "Ein Sommer, der bleibt. Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit",  enstand der Wunsch, mit Herta Müller eine Art Gegenstück dazu zu entwickeln, eine Art umgestülpten Handschuh. Während Kurzeck mit ansteckender Begeisterung die Wahrnehmung der Welt mit den Augen eines Kindes erzählt, von den Freuden und Glücksmomenten, den aufregenden Abenteuern des kindlichen Flüchtlingsalltags, ist die erinnerte Kindheit bei Herta Müller untrennbar verbunden mit Angstgefühlen und Todesgedanken. Also bei Kurzeck diese staunend machende Leichtigkeit, bei Müller diese sprachlos machende schwere, traurige Last. Gemeinsam mit Thomas Böhm haben wir die Idee dann weiter gesponnen und konkretisiert und sind dann an Herta Müller, mit der Thomas vor einiger Zeit im Literaturhaus Köln eine literarische Werkschau veranstaltet hatte, herangetreten. Und glücklicherweise hat sie sich auf das Experiment eingelassen... 

Müller erzählt von der Bedrohung durch den rumänischen Geheimdienst, von Selbstmordgedanken. Wie war die Atmosphäre des Gesprächs, kam mit dem Aufrufen der Erinnerungen auch die Bedrückung zurück?

Sander: Nein, ich habe es nicht als bedrückend empfunden, die Atmosphäre war eher freundschaftlich. Natürlich war in der Aufnahmesituation selbst eine gewisse Spannung da, die muss ja auch da sein, und ich glaube Herta Müller war froh und erleichtert als es vorbei war. Freude macht es ihr vermutlich nicht, diese Zeit wachzurufen, aber natürlich ist ihr ganzes Leben auch von diesen Erfahrungen geprägt, und auch ihre Bücher sind ja bereits eine Vergegenwärtigung ihrer Vergangenheit. Davon abgesehen haben wir zunächst, fast empirisch, angefangen mit Beschreibungen der Umgebung und des Alltags: Wie sehen die Leute aus, wie das Haus, das Dorf, die Arbeit. Davon erzählt sie, aber auch hier ist das Bedrohliche schon anwesend: die Angst des Kindes im Dunklen, von der schier grenzenlosen Weite der Felder. Besonders eindrücklich und auch Mut machend fand ich, dass sie diese frühen Erfahrungen im Rückblick sogar als hilfreich für sich erachtet, als eine “Einübung in die Angst”, wie sie sagt, in die schreckliche, lebensbedrohliche Angst, die sie später in ihrem Leben auszuhalten hat... 

Wie oft haben Sie sich getroffen und wo? Wie umfangreich sind die Tonaufnahmen insgesamt?

Sander: Wie gesagt, nachdem die Idee ausgebrütet war, gab es ein Vorgespräch, danach war klar: ok, wir versuchen es. Die eigentlichen Aufnahmen haben wir dann an einem Tag in ihrer Wohnung in Friedenau gemacht, reine Aufnahmezeit damals vielleicht ca. vier Stunden. Aus dem Material entstanden dann erste Schnittfassungen. Anschliessend haben wir nochmal gezielt Nachaufnahmen gemacht, um Einzelheiten zu vertiefen oder zu ergänzen. Und dann wieder Schnitt …

Sie haben jetzt eine Nobelpreisträgerin im Programm. Was bedeutet das für Ihren Verlag? 

Sander: Wir haben sogar schon neun Nobelpreisträger im Programm: Werner Heisenberg, Albert Einstein, Erwin Schrödinger, Max Planck, Karl von Frisch, Konrad Lorenz, Max Delbrück. Gut, das sind historische Aufnahmen, aber mit Harald zur Hausen eben auch einen letztjährigen Nobelpreisträger, und Herta Müller ist jetzt die einzige Literatin. Das Programm wird sich dadurch nicht verändern, aber es wäre natürlich zu hoffen, dass neue Hörer hinzukommen und vielleicht sogar angefixt werden, auch die bisherigen und künftigen Produktionen ein Stück weit zu verfolgen.