E-Book-Tag an der Bayerischen Staatsbibliothek

Vortrag: E-Books - vor dem großen Sprung

12. November 2009
von Börsenblatt
Welche Perspektiven hat das mobile Lesen? Welche Geräte, Formate, Inhalte setzen sich durch? Wie ändern sich die Strukturen bei Produktion und Distribution? Und hebt der Markt für E-Reader und E-Books bald ab? Fragen über Fragen und der Versuch, aktuelle Entwicklungen einzuordnen. Ein Vortrag von Börsenblatt-Redakteur Michael Roesler-Graichen.

Täglich neue Wasserstandsmeldungen über neue E-Book-Reader und Leseplattformen, über neue Content-Partnerschaften und Marktteilnehmer machen uns bewusst, dass das E-Book zum Synonym für ein Projekt und einen Prozess geworden ist, dessen Ziel nicht immer klar und dessen Ende nicht absehbar ist. Grob gesagt, handelt es sich um die Transformation des Buchhandels in eine digitale, teilweise virtuelle Welt einer Contentproduktion, -distribution und –rezeption, die sich mit den Strukturen der Printwelt nur noch in Teilen berührt. Dieser Übergang spielt sich zugleich hinter den Kulissen der Buchproduktion ab, mit dem Umbau von Workflows und einer Multichannel-Strategie, in der der Buchdruck nur ein Ausgabemedium neben anderen ist. Schon in wenigen Jahren wird es bei vielen Verlagen heißen: „e first“, und werden physische Titel nur noch „on demand“ gedruckt. Bei Springer Science + Business Media etwa soll es in fünf Jahren so weit sein. Anders ist die Situation bei den Publikumsverlagen, die auf lange Sicht hybrid produzieren werden.

Das E-Book – man könnte weiter gefasst sagen: alle neuen digitalen Content- und Lesetechnologien – spielt dabei die Rolle eines Motors, der die Entwicklung vorantreibt. Dabei ist nicht entscheidend, auf welchem Trägermedium dieses elektronische Buch gespeichert wird und von wo aus es abgerufen werden kann: E-Books sind auf dem E-Reader, dem iPhone, dem Netbook, dem PC oder online „in the cloud“ zu lesen. Die aktuelle Diskussion ist zwar auf E-Reader, insbesondere Geräte auf E-Ink-Basis fokussiert – man könnte auch sagen: fixiert –, aber öffnet sich mehr und mehr auch den anderen Leseplattformen, die in Zukunft eine wichtigere Rolle spielen werden, wie die Diskussion in den USA zeigt.

Die Zahl der bis 2010 im Handel erhältlichen E-Book-Reader ist einer aktuellen Studie von Kirchner + Robrecht vom 15. Oktober zufolge inzwischen von 20 auf 39 Geräte gestiegen, 2010 dürften es an die 50 verschiedene sein. Einige der Reader sind erst vor wenigen Wochen in den deutschen Markt eingeführt worden, darunter der netzunabhängige Kindle Wireless (Auslieferung seit 19. Oktober), der Sony Touch Edition, das Cybook Opus und der „Story“ von iRiver. Angekündigt ist der Txtr Reader, der am 15. Dezember in den Handel kommen soll. In den USA bringt Barnes & Noble den „Nook“, weitere Geräte wie der Que Reader von Plastic Logic, das vermutlich erste im Handel erhältliche Gerät mit einem flexiblen E-Ink-Display, sind für 2010 angekündigt. Samsung, Vodafone und Apple haben ebenfalls neue, innovative Geräte angemeldet.

Kirchner + Robrecht erwarten für Deutschland aufgrund einer vorsichtigen Schätzung rund 170.000 verkaufte E-Reader bis Mitte 2011. Würde man die Schätzung des US-Marktforschers Forrester Research als Maßstab wählen, müssten es 330.000 Geräte sein. Doch weder die Marktstruktur noch die Verbrauchergewohnheiten noch der Verlauf der Geräteeinführung in Deutschland lässt sich ohne Einschränkungen mit den USA vergleichen.

•    Die Neigung der Konsumenten, sich E-Reader zu kaufen, ist nicht so ausgeprägt wie in den USA.

•    Außerdem ist noch kein Kindle-Effekt zu beobachten. Die jüngste Version des Lesegeräts von Amazon – der drahtlose E-Book-Weltempfänger – kann zwar in Deutschland bestellt werden (über die USA), aber der deutschsprachige Content fehlt bis auf wenige Ausnahmen. Amazon sagt zwar, man sei mit dem Verkaufsstart des Kindle Wireless zufrieden, doch Zahlen für Deutschland und Europa erfährt man ebensowenig wie Verkaufszahlen aus den USA. Ob sich die Dynamik des E-Book-Verkaufs beschleunigt, wenn der ebenfalls drahtlose txtr Reader mit einem breiten Content-Angebot in den Handel kommt, lässt sich heute noch nicht sagen.

•    Die E-Reader könnten in Deutschland schneller als erwartet von Smartphones und anderen Leseplattformen überholt werden: Es stehen immer komfortablere Geräte – demnächst auch mit größeren Displays – zur Verfügung, die wegen ihrer Multifunktionalität die Anschaffung eines speziellen E-Readers erübrigen. Auch die Zahl der Betriebssysteme, die derzeit für Lesegeräte eingesetzt werden, etwa Googles Android oder Windows CE, wird sich in den kommenden Jahren reduzieren, so dass eine Übertragung von E-Books von einem Gerät auf das andere erleichtert wird.

•    Zudem wird das Lesen in Web Browsern zunehmen, nachdem Google sein E-Book-Geschäftsmodell Google Editions für das erste Halbjahr 2010 angekündigt hat, und Libre Digital einen offenen E-Book-Standard anbieten will, der das Lesen auf allen Plattformen ermöglicht, Stichwort: „All access“. Vielleicht ist das Modell auch eine Konkurrenz zum E-Pub-Standard, aber auf jeden Fall bestätigt es den Trend zu formatunabhängiger, plattformübergreifender Präsentation und Lektüre von Inhalten. Freie Software wie Calibre oder kommerzielle Software von Anbietern wie DNAML und von Adobe macht es bald möglich, jedes E-Book in jedes beliebige Format umzuwandeln und umgekehrt. Proprietäre Formate wie Amazons Kindle-Format AZW auf MOBI-Basis oder Sonys Library-Format BBeB werden zurückgedrängt und durch offene Formate ersetzt. Die iPhone- und PC-Applikationen von Amazon sprechen da eine deutliche Sprache.

Der E-Book-Publikumsmarkt hat in Deutschland seit dem Start der E-Book-Kooperation von Sony, Libri und Thalia und der Aufstockung der E-Book-Verkaufsplattformen (vor allem Ciando, libreka! und andere) noch keine nennenswerte Größe erreicht. Wenn hier das Bild vom Wasserstand zutreffend wäre, dann müsste man eher von einem Rinnsal sprechen. Laut GfK sind im ersten Halbjahr rund 65.000 E-Books im Buchhandel verkauft worden. Die Frage nach Verkaufszahlen für das dritte Quartal 2009 beantwortet die GfK so: „Aufgrund der überschaubaren verkauften E-Books werden wir unsere nächsten Hochrechnungen für das Gesamtjahr 2009 vorlegen.“ Man habe sich dafür entschieden, für das dritte Quartal 2009 keine öffentlichen Aussagen zu machen.

Die Zahl der verkauften E-Reader liegt bei maximal 10.000 Geräten, vielleicht sind es auch mehr. Verlässliche Zahlen liegen nicht vor, aber die aktuelle Zahl dürfte noch weit von den 170.000 verkauften E-Readern entfernt sein, die Kirchner + Robrecht in ihrer Studie prognostizieren. Sony wirbt mit einer Größenordnung von 300.000 verkauften Sony Readern weltweit, nennt aber für Europa und Deutschland keine genauen Zahlen.

In Prognosen ist immer wieder davon die Rede, dass der E-Book-Markt in Deutschland in etwa zwei bis drei Jahren den Marktanteil erreicht haben könnte, den elektronische Bücher bereits heute in den USA haben – je nach Berechnungsgrundlage etwa zwei bis vier Prozent. Doch selbst wenn man die Ergebnisse aus den USA relativiert und auf Grund konservativerer Einstellungen eine geringere Marktdynamik bei der Verbreitung von Lesegeräten erwartet, dürfte der prognostizierte Marktanteil noch verfehlt werden. Derzeit bewegt sich der E-Book-Publikumsmarkt allenfalls im Promillebereich, was durchgesickerte oder hinter vorgehaltener Hand genannte Downloadzahlen bestätigen.

Einzig Ciando scheint bei der Zahl der Downloads weit über dem Durchschnitt zu liegen – kürzlich wurde die magische Schwelle von 1.000.000 Downloads üerschritten – aber der Münchner E-Book-Händler versorgt nicht in erster Linie Besitzer von E-Book-Readern, sondern bedient auch das Fach- und Wissenschaftspublikum, das meist am PC oder Laptop liest. Das Angebot ist zudem in mehr als 100 Online-Auftritt anderer Anbieter eingebunden – in Form von White Labels oder als im Bestellsystem hinterlegte Schnittstelle.

An den schwachen Verkaufszahlen ändert im Moment auch das vorhandene Angebot wenig. Libri bietet bis zum Jahresende rund 12.000 Titel, darunter auch bis zu 1.500 Titel der Holtzbrinck-Verlage; libreka! hat rund 14.000 Titel im Angebot (darunter auch zahlreiche Wissenschaftstitel), txtr wird auf seiner Plattform txtr.com neben Libri und libreka! das Angebot von Ciando einbinden – und dennoch dürfte der Markt nicht so bald abheben, um ein anderes Bild zu gebrauchen. Im Gegenteil: Man wird den Eindruck nicht los, dass die Maschine immer noch auf der Rollbahn ist und mangels Schubkraft nicht den nötigen Auftrieb erhält.
Sobald geeignete, flexible Lesegeräte in ausreichender Zahl zu einem günstigen Preis zu haben sind, sobald das Content-Angebot attraktiver wird, und die Installation der Geräte möglichst unaufwendig ist, könnte der Markt tatsächlich abheben.

Die Infrastruktur für den E-Book-Handel steht. Dienstleister wie hgv, Libri mit Libri.Digital, KNV mit der Plattform New Digital World, die VVA im Verbund mit BIC Media (Arvato) oder im globalen Maßstab Ingram mit Ingram Digital stehen bereit, um E-Book-Services von der Konvertierung über die Auslieferung bis hin zur Fakturierung anzubieten.

Ob wir in fünf oder zehn Jahren unter E-Book noch dasselbe verstehen werden wie heute, ist offen. Mit der Entwicklung der neuen Lesetechnologien wird sich auch der Charakter des Lesens und der gelesenen Inhalte verändern. Weder die spezifischen Lesegeräte noch die Formate noch die Inhalte haben eine unveränderliche Form. Neue Gerätegenerationen, die flexible Displays haben, die mehr können als die bisher im Handel erhältlichen E-Ink-Reader, sind in Vorbereitung. Im Netz kursieren bereits Prototypen farbiger Geräte von Bridgestone und anderen Herstellern, oder von den Tablet-E-Readern, die ASUS (in Kooperation mit Vodafone), Microsoft ("Courier") und Apple planen.

E-Books werden nicht nur die digitale Entsprechung gedruckter Bücher sein (wie dies bei der Belletristik der Fall ist), sondern neue, multimediale Formen der Inhaltspräsentation ermöglichen. Die sogenannten Vooks in den USA, die Text, Audiofiles und Videos miteinander verbinden, stehen exemplarisch dafür. Wir werden es also nicht nur mit einer Revolution der Trägermedien zu tun haben, sondern mit einer Revolution der Darbietungsformen, der literarischen Gattungen und des Lesens selbst.

Wir haben es mit elektronischem Lesen zu tun, das einerseits die Erfahrung des herkömmlichen Lesens möglichst originalgetreu nachbilden will (etwa in der Typographie), sich zugleich aber partiell von der traditionellen Weise des Lesens gedruckter Bücher entfernt. Wir werden in wenigen Jahren mediale Welten kennenlernen, in denen der Text nicht immer die zentrale Rolle spielt, sondern als ein Element in einem multimedialen, interaktiven Kontext rezipiert wird – eine Entwicklung, wie man sie bei Webauftritten bereits beobachten kann.

Als ich den Titel für diesen Vortrag angeben sollte, war ich in bezug auf die kommende Entwicklung optimistischer. Inzwischen würde ich ihn mit einem Fragezeichen versehen: E-Books 2009 – Vor dem großen Sprung?

Michael Roesler-Graichen 

(Schriftliche, leicht gekürzte Fassung des Vortrags, der am 6. November in der Bayerischen Staatsbibliothek gehalten wurde.)