Vorratsdatenspeicherung

"Jeder elektronische Atemzug"

16. Dezember 2009
von Börsenblatt
Das Bundesverfassungsgericht hat gestern mündlich über Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung verhandelt. Der Gerichtstermin wurde zu einem Schaulaufen der Beschwerdeführer und Kritiker, während die Befürworter des Gesetzes der Verhandlung weitgehend fern blieben. Ein Bericht aus Karlsruhe. (Zum Thema erscheint in Börsenblatt 51/52 ein weiterer Artikel.)

Er hätte es eigentlich schon am Vormittag sagen wollen, doch Hans-Jürgen Papier, der Vorsitzende des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts, sparte sich die Bemerkung bis zum späten Nachmittag der mündlichen Verhandlung auf: „Das Gericht wundert sich darüber, dass kein Vertreter der Bundesregierung hier erschienen ist, um das Gesetz zu verteidigen.“

Stattdessen waren nur Vertreter der Opposition – meist in Gestalt der insgesamt rund 35.000 Beschwerdeführer – erschienen, um dem Gesetz auf Vorratsdatenspeicherung eine klare Absage zu erteilen. Die zuständige Justizministerin Sabine Leutheuser-Schnarrenberger ließ sich entschuldigen, ihr Rollenkonflikt war zu offenkundig: Zugleich als Beschwerdeführerin mit einer Gruppe von FDP-Politikern aufzutreten und für die Regierung das Gesetz zu vertreten, wollte sie sich und den Verfahrensbeteiligten ersparen. Leutheuser gegen Schnarrenberger fand also nicht statt. Die Ministerin entsandte ihre Staatssekretärin Birgit Grundmann und als Bevollmächtigten den Juristen Christoph Möllers, Professor für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität Berlin.

Als Rechtsanwalt, aber zugleich auch als Anwalt der Bürgerrechte trat Burkhard Hirsch, ehemaliger Vizepräsident des Deutschen Bundestages, vor das Gericht. Der fast 80jährige FDP-Politiker ist in der Vergangenheit bereits mehrfach gegen Gesetze zu Felde gezogen, die Grundrechte aushebeln und die Freiheit beschneiden könnten. Hirsch, der die gesamte Verhandlung aufmerksam verfolgte und immer wieder einhakte, wenn ihm die juristische Rechtfertigung des Gesetzes zur Vorratsdatenspeicherung gegen den Strich ging, stand vor dem Ersten Senat wie die personifizierte Mahnung an die Grundprinzipien unseres freiheitlichen Gemeinwesens. Dieses sieht Hirsch und sehen auch die übrigen Beschwerdeführer – unter anderem der Grünen – durch ein Gesetz gefährdet, dass die anlasslose und flächendeckende Speicherung von Daten anordnet.

Hirsch und andere Kritiker des Gesetzes warnten im Gesetz vor einem "Dammbruch". Wenn "jeder elektronische Atemzug gespeichert" werde, würde der Kern der Persönlichkeit getroffen. Denn mit Hilfe der Daten könne man Personenprofile anlegen, die die informationelle Selbstbestimmung zunichte machen würden. Außerdem könnte die einmal begonnene Datensammlung nachParagraf 113 a des Telekommunikationsgesetzes (die Vorschrift ordnet die Vorratsdatenspeicherung an) die Datengier steigern. "Demnächst könnten auch Flugtickets, Bahntickets und öffentliche Videoaufzeichnungen gespeichert werden", ohne dass der Betroffene davon erführe. "Wo ist die Grenze?" fragte Hirsch mit mahnendem Unterton. Und fügte hinzu: "Der Staat soll den Bürger schützen, aber er muss ihn auch respektieren."

Volker Beck (Grüne) erinnerte das Gericht an seine eigene Rechtsprechung: das Urteil zur Volkszählung aus dem Jahre 1987, an dem Hans-Jürgen Papier selbst mitgewirkt hatte. Die Entscheidung wurde damals, so Beck, als "Magna Charta" des Datenschutzes bezeichnet. Das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung bezeichnete Beck ebenfalls als "Dammbruch". "Einen solchen Generalverdacht hat es bisher in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte nicht gegeben", warnte er.

Welche Gefahr in der pauschalen Speicherung von Daten schlummert, machte Constanze Kurz vom Chaos Computer Club anschaulich: Sie hielt den Richtern einen Mikrochip vor den Augen, wie er in einer handelsüblichen Speicherkarte verwendet wird. "Auf diesem Chip mit einer Kapazität von 16 Gigabyte lassen sich die kompletten Daten eines Providers speichern." Schaue man sich die technische Entwicklung der kommenden zwei bis fünf Jahre an, so würden sich Mobiltelefone zu "Ortungswanzen" in den Taschen der Bürger entwickeln. Anhand von IP-Adressen und GPS-Signalen (aus Navigationsmodulen) könne man einen Nutzer genau lokalisieren. "Das Netz aus Daten wird sich immer weiter zusammenziehen", prophezeite Kurz. Anhand der gespeicherten Verbindungsdaten aus allen möglichen elektronischen Informationsdiensten könne man soziale Profile erstellen sowie Lokations- und Transaktionsverläufe rekonstruieren.

Der Mannheimer Informatiker Felix Freiling beschäftigte sich mit der Struktur der gespeicherten Daten und kam zu dem Schluss: "Inhalts- und Verkehrsdaten sind begrifflich schwer zu trennen und sollten gleichbehandelt werden". Dies entzöge der Position des Gesetzgebers, dass inhaltliche Rückschlüsse aufgrund von Verbindungsdaten nicht möglich seien, den Boden.

Für Heiterkeit im Gerichtssaal sorgte der Dresdner Datenschutzexperte Andreas Pfitzmann: Er brachte einen USB-Stick mit, auf dem sich die Ergebnisse der Volkszählung von 1987 fünfmal speichern ließe. Und diese Daten zu löschen, wie dies auch das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung vorschreibe, sei kein Kinderspiel. "Sie können diesen Stick in ein Wasserglas oder auch in Säure legen, ohne dass den Daten ernsthaft etwas passiert." Und je länger Daten gespeichert vorlägen, desto besser seien sie auch dem Zugriff der Leute ausgeliefert, vor denen sie eigentlich schützen sollen: organisierte Kriminelle, Terroristen und fremde Geheimdienste. Es gebe keine Datenspeicherung, die nicht Sicherheitslücken aufwiese.

Nach den Auftritten der IT-Experten und Datenschutzbeauftragten (unter anderem dem Bundesbeauftragten Peter Schaar) brach BKA-Präsident Jörg Ziercke eine Lanze für die Datenspeicherung. Ohne dieses Instrument könne man eine Vielzahl von Delikten, vor allem virtuellen Computerstraftaten, einfach nicht mehr aufklären – was Burkhard Hirsch postwendend dementierte: "Ich sehe keinen Einfluss der Vorratsdatenspeicherung auf die Aufklärungsquote".

Das Gericht versprach, die Frage der Vorratsdatenspeicherung im Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit grundsätzlich zu prüfen. So wird also im Frühjahr mit einem Grundsatzurteil zu rechnen sein, das der im Verfahren erwähnten Entscheidung zum Volkszählungsurteil ebenbürtig sein könnte. Gerichtspräsident und Senatsvorsitzender Hans-Jürgen Papier deutete eine Tendenz des Urteils an: "Nach allem stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber nicht für eine größere Verhältnismäßigkeit hätte sorgen müssen." Dies bezieht sich vor allem auf die anlasslose Speicherung der Daten. Papier kritisierte auch die "relativ offenen" Regelungen des Paragrafen 113 a, die nur eine "globale Zweckumschreibung" vornähmen. Hier könnte der Erste Senat eine Präzisierung der Vorschriften vom Gesetzgeber verlangen.

Es könnte also sein, dass das Bundesverfassungsgericht – wie bei ähnlich gelagerten Fällen in der Vergangenheit – das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung, mit dem die Vorratsdatenspeicherung Anfang 2008 in die Welt kam, in seiner jetzigen Form verwirft. Ohnehin war seine Anwendung schon teilweise durch eine Einstweilige Anordnung des Gerichts ausgesetzt worden. Anforderungen an ein neues Gesetz könnten sein: die klare Definition der Anlässe, die zur Datenspeicherung berechtigen, und eine präzise Umschreibung, wie die Vorschriften in der Praxis von Bund und Ländern anzuwenden sind. Damit ließe sich die Schwere des Eingriffs in die Privatsphäre, die die Datenerhebung bedeutet, vermutlich besser begründen.

Abzuwarten bleibt, ob die Entscheidung auch die Rechte der Urheber in die Waagschale wirft, für die sich Börsenvereinsjustiziar Christian Sprang und Jan Florian Drücke vom Bundesverband Musikindustrie in Karlsruhe stark gemacht hatten: In ihren Statements wiesen Sprang und Drücke auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hin, die die nationalen Gesetzgeber aufgefordert hatte, beim Schutz des Fernmeldegeheimnisses und der informationellen Selbstbestimmung nicht das Recht des geistigen Eigentums zu vernachlässigen. Man könnte sich vorstellen, dass in einem neuen Gesetz zur Telekommunikationsüberwachung auch eine konkrete Bestimmung zum Umgang mit Urheberrechtsstraftaten aufgenommen werden könnte. Ob es dazu kommt, und ob das Gericht diesen Aspekt in seine Grundsatzentscheidung aufnehmen wird, bleibt jedoch offen.

Michael Roesler-Graichen

 

Stichwort Vorratsdatenspeicherung
Das Bundesverfassungsgericht hat am 15. Dezember 2009 drei Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz zur sogenannten Vorratsdatenspeicherung mündlich verhandelt. Dabei geht es um die in Paragraf 113 a des Telekommunikationsgesetzes (TKG) vorgeschriebene Verpflichtung von Telekommunikations-Providern, Verbindungsdaten der elektronischen Kommunikation für sechs Monate zu speichern.

Die Vorschrift war zusammen mit einer Reihe weiterer Paragrafen durch das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikations­überwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen in das TKG eingeführt worden und trat im Januar 2008 in Kraft. Neu im TKG ist seither auch der Paragraf 113 b, der die Pflicht zur Auskunftserteilung regelt. Demnach müssen die vorgehaltenen Daten bei Ermittlungen schwerwiegender Straftaten, zur Gefahrenabwehr und für die Nachrichtendienste herausgegeben werden.

Das Verfahren in Karlsruhe wird als dasjenige mit der höchsten Zahl an Beschwerdeführern in die bundesdeutsche Rechtsgeschichte eingehen: Rund 35.000 Beschwerdeführer standen hinter der Verfassungsbeschwerde des Rechtswissenschaftlers Christoph Gusy (darunter auch ein Provider, die JonDos GmbH). Weitere Verfassungsbeschwerden hatte eine Gruppe von FDP-Politikern (mit Burkhard Hirsch an der Spitze) und eine Gruppe von Grünen-Politikern und -Parlamentariern (mit Volker Beck an der Spitze) eingereicht.

Die Beschwerdeführer sehen in dem Gesetz in erster Linie eine Verletzung des Fernmeldegeheimnisses sowie des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung.