Vor der Bücherwand

"Fasse Dich kurz" – Ein Jahr Twitter-Leben

20. Dezember 2009
von Börsenblatt
Twitter und Facebook sind Web 2.0-Bühnen, auf denen unsere Personen agieren, auf denen sie sich darstellen als jene, die sie in diesem Augenblick mehr oder weniger gern wären. Ein persönlicher Rückblick von Rainer Friedrich Meyer, Antiquar in Berlin.

Man is least himself when he talks in his own person. Give him a mask, and he will tell you the truth. (Oscar Wilde: "The Critic As Artist", Scene 2)

Dies als Motto des Wäbbzwonull, dazu geschaffen, daß jeder sich und seine kleinen Heimlichkeiten offenbare, auf daß sie keine mehr seien, sondern ein jeglicher sich an der tiefen Erkenntnis ergötze, daß sein ferner Artgenosse ebensolche Schwächen pflegt, wie er sie sein eigen nennt oder gern nennen würde, oder neue, andere etwa, die spannenderes Leben verheißen – denn dramatischer als das Sein sind allemal das Virtuelle, für die Älteren unter uns das Theater oder das Kino.

Doch nichts dergleichen, wir sind alle bloß aus Fleisch und Blut, wenngleich virtuellem, und der größte Fehler wäre es, einem Roman oder Film zu vertrauen, er beschriebe irgendeine Realität außer der seinen, ebenso jenen Schimären in Facebook (warum nur erinnert dieses Wort an 'Buch', nicht an Flickenteppich?) oder Twitter.

Es sind Bühnen, auf denen unsere Personen agieren, auf denen sie sich darstellen als jene, die sie in diesem Augenblick mehr oder weniger gern wären.

Manche wie ich verbergen sich, indem sie vorzugsweise auf noch unbekanntere, als man es sich selbst je zu sein vermöchte, Dritte wie Vierte hindeuten mittels der Verweise, die ins nirvanische Internetz fortleiten; andere offenbaren sich uns lebensnah in den Bruchteilen ihres täglichen Erdentreibens, das – so wie sie es schildern – aus Schlafengehen, Träumen, Aufwachen, Frühstück, Mittagessen, Job, Fernsehen, Kino und dergleichen bestehen mag. Wie gewöhnlich. Plötzlich jedoch gewinnt im Bild, das ein Zwitscherer einstellt, eine Küchenwand neue Proportionen, da von einer Konfitürenexplosion getroffen; die Photographie eines ungekonnt beklebten Buchrückens gewinnt platonischen Wert, da sie als Idee für alle je von Lesern massakrierten Bücher steht.

Ich mag Twitter. Weil es so schnell und so kurz ist. "Fasse Dich kurz" fand man vor langer, langer Zeit an die Telephonzellen geschrieben. Damals gab es noch keine Flachraten für Flachsinnigkeiten.

Das Wichtigste sind mir neben den Zwitschern jener, mit denen mich eine virtuelle Freundschaft oder Interessengemeinsamkeit verbindet, die aktuellen Hinweise auf Seiten im Internetz, Ausstellungen, Blogs. Dort kann ich dann – Zeit vorausgesetzt – weiterlesen, was mich interessiert. Den Rest lasse ich liegen, und er entschwindet langsam durch den unteren Bildschirmrand.

Nichts ärger als Leute, die in ihrem verbalen Auftreten zeigen, wie toll sie sich dünken: dann wird die Maske offensichtlich, die allzu dicke Schminke eines mäßigen Selbst-Schauspielers blättert vor meinen Augen – und schwupp, der Eigendarsteller ist entfolgt und geblockt, den Abgründen virtueller Zwischenhöllen übergeben, deren Insassen bekanntlich nicht wissen, wo oder wer sie sind.

Auch schaue ich gern nach jenen fiktiven Internetzeingeborenen, die aus mir unverständlichen Gründen beschlossen haben, mir (sic!) zu folgen: sind sie oder ihr Wörtergezwitscher irgendwie interessant, würde es lohnen, sie zu verfolgen?

Nur nicht zu vielen nachfolgen, dann würde die Spalte überquellen, und ich müßte jeden einem Fach zuordnen, um nicht den Überblick zu verlieren. Avatare, die mehr als zwei- oder dreihundert ihresgleichen nacheilen, sind mir unheimlich; haben sie einen Schnellese-Überfliege-Kurs hinter sich? Selbstverständlich verdächtige ich sie insgeheim, die Zwitscher derer, denen sie so vielzahlig folgen, garnicht zu lesen, schon aus Hygiene.

Facebook verstehe ich immer noch nicht ganz; sendet mir jemand ein Herzchen, schrumpfe ich innerlich ein, um mich hinter dem nächsten virtuellen Baum zu verstecken: wie kommt der/die Fremde dazu, mir dies anzutun? Bin ich jetzt verpflichtet, irgendetwas zurückschicken? Eine Axt vielleicht? In diesen Herzchen- und Bildchengeschenken blinzeln mich die Masken an. Das Wäbbzwonull wurde geschaffen, sie umzuhängen.

Die Kunst, diese soziokulturelle Errungenschaft zu benutzen, besteht – so sehe ich es nach einem Jahr – darin, Spion, Provokateur sowie Deserteur in jener Anstalt allgemeinen Sichrundumverständlichmachens zu sein.

Rainer Friedrich Meyer