Meinung: Hegemann-Debatte

Das große Missverständnis

10. Februar 2010
von Börsenblatt
Warum die Literaturkritik im Fall Helene Hegemann so seltsam gescheitert ist. Eine Analyse von Thomas von Steinaecker, die der Schriftsteller mit einer Bitte an die Rezensenten verbindet.

Originalität gibt’s sowieso nicht, nur Echtheit.« Dieses Zitat Helene Hegemanns klingt bedeutungsschwer, ist jedoch literaturtheoretisch unscharf. Wer von Authentizität spricht, setzt jenen individuellen Autor voraus, dessen Existenz zuvor mit dem Hinweis auf die Unmöglichkeit von Originalität in Abrede gestellt wurde. So gesehen, wirkt der Satz aus dem Mund einer Autorin befremdlich, deren Biografie von Anfang an die Rezeption ihres Buchs bestimmte. Man könnte also von einem erstaunlichen Missverständnis zwischen Autorintention und Rezeption sprechen: hier die poststrukturalistische Schreiberin, die das Uneigentliche im Eigentlichen betont und deshalb andere Texte kopiert. Dort die Literaturkritik, die sich romantisch nach dem unverfälschten Genie sehnt.

Literaturtheoretisch ist der Fall Hegemann freilich nur marginal interessant, weil er alte Positionen aufwärmt. Juristisch bleibt fraglich, ob nun gleich der ganze Roman ein Plagiat genannt werden kann. In Sachen Höflichkeit ließe sich anmerken, dass sich Hegemann nicht anständig benommen hat, als sie sich, ohne zu fragen, mit fremden Federn schmückte und sich dann, als die Sache aufflog, nicht geradeheraus entschuldigte, sondern literaturwissenschaftlichen Nebel verbreitete.

Markttechnisch betrachtet, hat eine Autorin ein Imageproblem, die sich rebellisch gibt und dann als Ullstein-Autorin kleine Underground-Verlage um ihr Zitathonorar bringt, während sie selbstverständlich vor Drucklegung die Rechte an David Foster Wallace bei KiWi einholt.
Zu alldem könnte man sagen: Schwamm drüber. Rezeptionsästhetisch allerdings hat der Umgang mit dem Roman »Axolotl Roadkill« das Potenzial, Geschichte zu schreiben: als vorläufiger Höhepunkt einer vor allem durch außertextliche Faktoren bestimmten Lektüre.

So wurde in den Kritiken, von denen ein Großteil den Charakter einer Homestory besaß, gar nicht erst versucht, den Anschein sachlicher Unbestechlichkeit zu erwecken. Stattdessen standen das jugendliche Alter der Autorin, ihr blondes Haar, ihr Wohnort Berlin und ihr Vater im Mittelpunkt, mit dem der eine Rezensent, wie er unumwunden erklärte, bekannt ist beziehungsweise an dessen Stelle der andere gern wäre.
All dies bildete die argumentative Basis für die dann konstatierte Qualität des Textes, den unverwechselbaren Sound einer Generation. Gerade aber diese immer wieder betonte Authentizität droht nun durch die Plagiatsvorwürfe ad absurdum geführt zu werden, genauso wie die romantisch anmutende Sehnsucht der Rezensenten nach ein bisschen Echtheit in einer durchinszenierten Welt.
Denn viel größer als der Wunsch, einen guten Text zu lesen, wirkt plötzlich jener, Zeuge einer Sensation zu sein. Eine Sensation freilich, der nichts Erhabenes anhaftet, sondern der gegenüber man sich deutlich überlegen in Szene setzen kann: Das Mädchen mit dem schweren Schicksal, das sehr reif ist – aber nicht so reif wie der Rezensent; der vermeintliche Unterschichten-Hemingway, der trinkfest ist und schreiben kann, aber natürlich nicht die Intelligenz und das intellektuelle Rüstzeug des Rezensenten besitzt. Und so weiter.

Der Fall Hegemann lässt in mir den dringenden Wunsch, nein, die aufrichtige Bitte aufkommen, dass sich die Literaturkritik hierzulande endlich weniger um Hypes oder die Biografie eines Autors kümmert und mehr um seinen Text.