Interview mit Constanze Kurz, Chaos Computer Club

"Grundsätzlich lässt sich auf alle Daten zugreifen"

4. März 2010
von Börsenblatt
Für Datenschützer war das Karlsruher Urteil nicht nur Grund zur Freude – die Verfassungsrichter haben zwar das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung verworfen, lassen aber die allgemeine Datenspeicherung grundsätzlich weiterhin zu. Boersenblatt.net sprach mit Constanze Kurz, Sprecherin des Chaos Computer Clubs, über Auswirkungen des Urteils – auch bei der Verfolgung von Urheberrechtsverstößen. Mehr zum Thema im aktuellen Börsenblatt (9/2010) ab S. 24.

Welche Möglichkeiten der Datenspeicherung haben staatliche Behörden unterhalb der Vorratsdatenspeicherung?

Kurz: Die Strafprozessordnung lässt in vielen Fällen eine Internetüberwachung zu. Grundsätzlich lässt sich auf alle Daten, die bei der Netzeinwahl über einen Provider generiert werden, zugreifen. Bei Urheberrechtsverstößen in gewerblichem Umfang kann auch die Staatsanwaltschaft Daten einholen. Beim sogenannten Quick-Freeze-Verfahren, das richterlich angeordnet werden muss, können Daten gezielt aus einem Datenbestand extrahiert und an die Behörden weitergegeben werden. Das Verfahren ist nicht unumstritten, weil der Richtervorbehalt in der Praxis manchmal lax gehandhabt wird.

Was sollten Verlage aus Ihrer Sicht beachten, wenn sie Urheberrechtsverstöße verfolgen?

Kurz: Gerade Verlage, die für Presse- und Meinungsfreiheit stehen, sollten sich beim Urheberrecht für einen guten Mittelweg entscheiden. Eine anlasslose, flächendeckende Speicherung, wie sie das Gesetz zur Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) vorsah, liefe dem meiner Meinung nach zuwider. Wäre das Gesetz noch in Kraft, wäre auch dieses Telefongespräch aufgezeichnet worden. Verlage stehen ohnehin am Scheideweg: Sie müssen für attraktive E-Book- und Hörbuchangebote sorgen, um der Piraterie im Netz
entgegenwirken zu können.

Welche Folgen hat die Ablehnung der Vorratsdatenspeicherung für Provider – auch für Google, Apple oder Amazon?

Kurz: Das Urteil dürfte erhebliche finanzielle Auswirkungen auf die gesamte Providerbranche haben, falls ein neues Gesetz vorgelegt wird. Die Kosten für die Datensicherung werden dann steigen. Davon wären mehrere Tausend kleinere Provider, aber auch Internetunternehmen wie Google, das zunehmend die Rolle eines Providers übernimmt, betroffen. In technischer Hinsicht würde sich wenig ändern zwischen Vorratsdatenspeicherung und Quick Freeze: Die Abfrageschnittstellen blieben bestehen und sind ohnehin standardisiert.

Gegenwärtig wird in Geheimverhandlungen an einem internationalen Anti-Piraterieabkommen (ACTA) gearbeitet. Wann wird es ein internationales Datenschutzabkommen geben?

Kurz: Das sehe ich noch in weiter Ferne. In den meisten Ländern hat Datenschutz keine Priorität. Immerhin sind weltweit mehr als 1.000 Unternehmen, darunter Google und Amazon, dem Safe-Harbor-Abkommen beigetreten. Es sieht vor, dass Daten nur in solche Länder oder Unternehmen weitergeleitet werden, die vergleichbare juristische Maßstäbe haben.

Sehen Sie eine Möglichkeit, Urheberrechtsverstöße im Netz auf eine Weise zu verfolgen, die das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wahrt?

Kurz: Ich glaube nicht, dass man die Problematik des Filesharing mit juristischen Mitteln allein – beispielsweise mit Abmahnungen – in den Griff kriegt. Um Rechteinhaber im Internet zu schützen, denken wir vom Chaos Computer Club über ein Modell zur Vergütung von Inhalten jenseits der Kulturflatrate nach: Ein differenziertes Punktesystem, dass wir demnächst auch der Enquete-Kommission »Internet und digitale Gesellschaft« des Deutschen Bundestags vorschlagen wollen.