Ein Buchmesse-Symposium zur Erinnerungskultur in Brüssel

Den Schmerz aushalten

22. Mai 2010
von Börsenblatt
Ob die Idee aufgegangen ist? Schwer zu sagen nach der Premiere. Die Frankfurter Buchmesse ist mit dem Symposium „Lecturas de la Memoria – The Culture of Memory“ im Jahre des Ehrengastauftritts Argentiniens in Frankfurt nach Brüssel gegangen, um „Kultur und Literatur über Ländergrenzen zu transportieren“, wie Direktor Juergen Boos bei der Eröffnung des zweitägigen Fachkongresses zur Kultur der Erinnerung sagte. Historiker, Philosophen, Journalisten, Politiker und Schriftsteller waren der Einladung gefolgt und als Redner nach Brüssel gekommen. Um jene Brüsseler Zuhörer, die die Messe auch erreichen wollte, wird sie weiter werben müssen.
Wer anwesend war, konnte eine Frau erleben, die mit fester Stimme von ihrem Leben und ihrem Kampf sprach, davon, dass sie ihren Enkel immer noch suche und die Hoffnung  nicht aufgebe. Ihre schwangere Tochter, Laura, wurde während der letzten Militärdiktatur in Argentinien verschleppt und ermordet - zwei Monate nachdem sie ihr Kind zur Welt gebracht hatte. Kein Zufall, sondern perfides Muster der Militärs: das Kind der Oppositionellen sollte bei fremden Eltern aufwachsen.   

Estela Barnes de Carlotto ist eine der Mütter des Plaza de Mayo. Die Frauen, die das Verschwinden ihrer Kinder nicht widerstandslos hinnehmen wollten, heißen so, weil sie sich zum Protest und zum Zeichen ihrer Entschlossenheit auf dem gleichnamigen Platz in Buenos Aires versammelten. Sie tun das immer noch, seit 33 Jahren nunmehr. Sie wollen wissen, was mir ihren Kindern geschehen ist, und sie suchen ihre Enkel. 101 in Gefangenschaft geborene Kinder konnten sie ausfindig machen. Estela Barnes de Carlotto, 1930 geboren und Präsidentin der Mütter, erzählte also von Mord, Angst und wie sie von ihren vier Kindern gelernt habe, mutig zu sein, sich einzumischen. „Der Schmerz wird nie nachlassen, aber, wenn man kämpft, kann man ihn aushalten“, schloss sie.

Die argentinische Soziologin Estela Schindel, die Erinnerungskultur vornehmlich in Deutschland und Argentinien untersucht hat, bezeichnete die Mütter des Plaza de Mayo als ein lebendes Denkmal. Für Schindel sind es solche Initiativen, die wirksamer als große Monumente die Erinnerung wachhalten.

Als Erinnerungsspeicher schlechthin charakterisierte die Berliner Schriftstellerin Katja Lange-Müller die Literatur. Schreiben ist Erinnerung, formulierte sie zugespitzt. Literatur reagiere auf Vergangenes oder auf das, was Menschen als vergangen ansehen, obwohl es als Trauma andauert. Autoren sieht Lange-Müller daher als „Anwälte des Verschwundenen“. Und folglich gilt: „Literatur trainiert das Erinnern.“

Es waren einfache Merksätze, kurz, knapp, klar. Eine Aufzählung des ihr Selbstverständlichen. Zuletzt schien sie sich deshalb fast entschuldigen zu wollen. Es sei doch eigentlich banal, sagte sie: „Literatur und Erinnern - das gehört zusammen wie ein linker und ein rechter Fuß.“ So musste ihr auch der schöne Vergleich ihres argentinischen Kollegen, Pablo Ramos, gefallen: „Geschichte hält Erinnerung fest. Fiktion hingegen hält Erinnerung lebendig.“

Die Militärdiktatur ist das immer wiederkehrende Thema der argentinischen Literatur der vergangenen Jahre. Das spiegelt sich zur Buchmesse wieder: Jedes dritte aktuell übersetzte Buch widmet sich, laut Juergen Boos, dieser dunklen Zeit. Keine leichte, doch eine aufschlussreiche Lektüre – bald auch für deutsche Leser.