Marcel Reich-Ranicki

Kritiker und Entertainer

2. Juni 2010
von Börsenblatt
Er hat Buchmarketing gemacht, noch bevor es den Begriff gab: Am heutigen 2. Juni wird Marcel Reich-Ranicki 90. Dieter v. Bestenbostel, jahrzehntelang unabhängiger Buchhändler in Nordenham, gratuliert.

"Es interessiert mich nicht!" – die Redewendung benutzte Marcel Reich-Ranicki im »Literarischen Quartett« häufig. Und sprach damit vielen Zuschauern aus der Seele: Man muss sich nicht mit jedem Buch auseinandersetzen, wenn es einen nicht persönlich "anspringt". Man darf über Bücher streiten, darf unterschiedlicher Meinung sein, wie Reich-Ranicki das über 385 Bücher mit Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler und einem wechselnden Gast von 1988 bis 2001 getan hat.

Uns Buchhändler von Flensburg bis Rosenheim haben die von Reich-Ranicki verrissenen Titel sehr wohl interessiert – weil sie wichtige Kaufimpulse gaben. Die Verrisse waren knapp und prägnant, auch wenn der Kritiker bedauerte, an der Oberfläche geblieben zu sein – aber gerade diese Kürze haben die Zuschauer geschätzt. Der Erfolg der Sendung lag in der Vereinfachung: Reich-Ranicki erzählte nicht für Goethefreunde, sondern für eine breite Masse von durchschnittlich 900. 000 Zuschauern. Die am nächsten Tag mit Titeln kamen, die sie notiert hatten, und uns nach unserer Meinung fragten.
Unsere Kunden haben erwartet, dass wir "Das Literarische Quartett" gesehen haben. Die Sendung sorgte für Gesprächsstoff, nicht zuletzt wegen der temperamentvollen, oft enthusiastischen Beiträge Reich-Ranickis, der literarisches Entertainment betrieb. Die Streitgespräche hatten teilweise kabarettistischen Wortwitz, bewundernswert die Schlagfertigkeit der Kombattanten Karasek und Reich-Ranicki: Florettfechter des Wortes.

Unsere Kunden merkten, dass Literatur nicht langweilig, sondern das pralle Leben ist. Gerade die Hinweise auf erotische Literatur sorgten für manche Debatte. Als Zeitungsbeitrag hätte das Ganze nicht funktioniert, weil die Spontaneität, das rasche Reagieren auf die unerwartete Ansicht des Gegenübers den Reiz bedingte. Öfters entstanden auch aus den Sendungen heraus Diskussionen mit den betroffenen Autoren, ich erinnere mich da an Günter Grass, und auch da haben die Auseinandersetzungen für Kaufinteresse bei den Kunden gesorgt: Hat der Reich-Ranicki wirklich recht? Jetzt will ich mal nachlesen.
Anders als später bei Elke Heidenreich wusste niemand vorher, welche Titel besprochen wurden, wir hatten nicht genügend Exem­plare vorrätig. Dass sie Bestseller wurden, merkten wir daran, dass die Barsortimente am Nachmittag nicht mehr liefern konnten: vergriffen.

Ein zweiter markanter Satz des Kritikers hieß: "Warum soll ich dieses Buch lesen?" – allerdings nur für "schlechte" Bücher. Mit dieser Frage sind Buchhändler jeden Tag konfrontiert – wir müssen für mögliche Nachfragen gerüstet sein. Und niemand kann Berge von Novitäten lesen. So haben wir Reich-Ranicki auch als inhaltlichem Verkaufshelfer zu danken: Nicht nur ich habe bei der Sendung aufmerksam zugehört und mir die entsprechenden Stichworte aufgeschrieben – eine exzellente Hilfe für das Verkaufsgespräch im Laden, weil er selbst umfangreiche Romane kurzweilig zu vermitteln wusste und auf den Punkt gebracht hat.
Der Buchhandel hat von dem literarischen Entertainer profitiert: Herzlichen Glückwunsch, Marcel Reich-Ranicki, zum 90. Geburtstag!