Meinung: Heikle Bestseller

Erregung auf Knopfdruck

9. September 2010
von Börsenblatt
Die öffentliche Diskussion um Sarrazin ist beschämend. Von Rainer Moritz.
Etwa zehnmal im Jahr werde ich gefragt, wie es um das Buch und die Lesefreudigkeit der Menschen bestellt sei. Etwa zweimal im Jahr werden Politiker gefragt, welche Werke der Weltliteratur sie sich für die Sommer- oder Weihnachtstage vorgenommen hätten, worauf die Interviewten liebend gern – das verschafft ein gutes Image – antworten, wie froh sie seien, sich während dieser Mußetage endlich einem »guten« Buch widmen zu dürfen.
Daraus folgt, dass die meisten Politiker außerhalb der Sommer- und Weihnachtstage nicht dazu kommen, sich mit Sachbüchern oder gar Romanen auseinanderzusetzen, und somit auch keine Zeit haben, Thilo Sarrazins »Deutschland schafft sich ab« zu lesen. Zumal dieses Werk skandalöserweise über 400 Seiten umfasst und allein deshalb eine Zumutung darstellt, zumindest für Politiker und deren Referenten.
Die öffentliche Diskussion um den provokanten Bundesbanker Sarrazin ist beschämend – aus mehreren Gründen. Sie zeigt, wie dürftig und vorhersehbar gesellschaftliche Debatten hierzulande ablaufen. Sobald Reizvokabeln fallen, die Tabus berühren und nicht wohlfeiler Moral entsprechen, springen die üblichen Verdächtigen wie von der Tarantel gestochen in die Höhe und ereifern sich pflichtschuldig. Wer von denen, die sich sofort empört über Sarrazin äußerten, hatte auch nur einen Bruchteil des Buchs gelesen? Wann fanden Kanzlerin Merkel und Bundespräsident Wulff, die sich mit ihren Ratschlägen an die Bundesbank gehörig blamierten, die Zeit der Lektüre? Die dauer­echauffierte Renate Künast – zu Gast in einer peinlichen Sendung bei Sittenwächter Beckmann – gab zu Protokoll, das Werk auf dem Weg ins Studio studiert zu haben, wohingegen Glashausbewohner Michel Friedman ohnehin aufhören sollte, anderen Verhaltenstipps zu geben.
Die Fälle Thilo Sarrazin und Eva Herman (obwohl diese kräftig mitgeholfen hat, ihr mediales Grab zu schaufeln) belegen, wie wenig die Knopfdruckerregbarkeit vieler Politiker und mancher Journalisten mit dem zu tun hat, wie eine breite Öffentlichkeit über heikle
Themen der Gesellschaft sprechen möchte und welche Persönlichkeiten sie für authentisch hält. Der anhaltende Erfolg von Kerstin Heisigs postum erschienenem »Das Ende der Gewalt« spricht ebenfalls dafür. Dass Sarrazin dabei – wie während der Beckmann-Inquisi­tion – einen ungelenken, fast unbeholfenen Eindruck machte und darauf bestand, ganze Sätze zu formulieren und nicht sofort vom nach vorne gebeugten Moderator unterbrochen zu werden, goutieren die Zuschauer mehr, als es die vermeintlichen Medienpromis ahnen.
Wer als Verlagsleiter oder Pressechefin für die Publikation solcher unliebsamen Bücher die Verantwortung trägt, braucht ein breites Kreuz. Gegen alle Beschimpfungen, Unterstellungen, man habe es nur auf schnelle Umsätze abgesehen, und Bedrohungen hilft nur eins: standhaft bleiben, sich zu seinem Autor bekennen, auf Meinungsfreiheit pochen und warten, bis die Karawane der moralingetränkten Von-vornherein-Rechthaber weiterzieht.
Wie war das damals mit Martin Walser und seinem Roman »Tod eines Kritikers«? Wie war das mit denen, die dem Autor sofort Antisemitismus vorwarfen, mit Transparenten und Blockaden Lesungen verhindern wollten – ohne eine einzige Zeile des umstrittenen Buches gelesen zu haben?