Dankesrede zum Alfred-Kerr-Preis

"Ich glaube nicht an eine Krise der Kritik"

20. März 2011
von Börsenblatt
Literaturkritik hält eine Gemeinschaft zusammen, weil sich über diese Gattung verständigen lässt, meinte Ina Hartwig, als sie in Leipzig den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik entgegennahm. Und sie plädierte unbedingt dafür, mit einer differenzierten Textanalyse der Kritik ein Fundament zu geben.
Verehrter Professor Honnefelder, lieber Herr Casimir, lieber Clemens Meyer, liebe Freunde und Anwesende!

Der Kerr-Preis ist für mich eine große Freude, aber ich bin auch verwirrt, da man als Kritikerin in der Regel anderen zu Preisen verhilft. Niemand wird vernünftigerweise Literaturkritiker in Erwartung einer Auszeichnung. Um so schöner und überraschender, wenn sie dann doch kommt.

So ein Kerr-Preis ist aber auch etwas sehr Praktisches, wie ich jetzt bemerken durfte; weil sich viele einmischen mit Hinweisen, was ich in der Dankesrede alles bedenken soll. So kämpft man einmal nicht allein im Kämmerlein. Ein mir nahestehender Mensch legte Bob Dylans „Ballad of a Thin Man“ auf, worin ein Kritiker mit Namen Mr. Jones auf einer abgedrehten Party als weltfremder Bildungsspießer verhöhnt wird. Alles, was der Kritiker gelesen hat, zum Beispiel den ganzen Fitzgerald, nützt ihm plötzlich nichts mehr. Er wirkt lächerlich mit seinem Stift in der Hand und begreift einfach nicht, was auf dieser seltsamen Party vor sich geht: „You see somebody naked and you say ,Who is that man?’ / You try so hard but you don’t understand / just what you will say when you get home / because something is happening here / but you don’t know what it is / do you, Mr. Jones?” Ein solcher Hohn, meinte der mir nahestehende Mensch, sei das Schlimmste, was einem Kritiker passieren könne. Lassen wir offen, ob das als Warnung oder Trost gemeint war, fügen aber hinzu, dass Alfred Kerr ähnlich gedacht haben muss, als er schrieb: „Kritiker zu sein ist ein dummer Beruf, wenn man nichts ist, was darüber hinaus geht.“  

Kerr hat damit insofern ernst gemacht, als er seine Prosabemühungen nicht auf Literatur und Theater beschränkte. Er wollte selbst ein Künstler sein, ein Kritikerkünstler sozusagen. Schriftstellernd hat er sich in der kaiserlichen Reichshauptstadt Berlin umgesehen; seine „Briefe eines europäischen Flaneurs“ lassen ihn über den Verdacht der Weltfremdheit in der Tat erhaben erscheinen. So begibt er sich beispielsweise, wir schreiben das Jahr 1897, unter die sommerlichen Besucher einer Schankwirtschaft, nicht unter das vornehme Volk des Berliner Westens, sondern das wuselige, triebhafte Volk Schönebergs – die Liebespaare geben dort unverhohlen ihrer „Liebesglut“ Ausdruck, worauf der Wirt sich mit ernsten Schritten nähert und auf ein Plakat zeigt, auf dem steht: „Hier darf nicht geknutscht werden.“

Die Einheit von Leben, Kritik und Kunst, die der – von Carl Zuckmayer als „Scharfrichter“ mit „ironisch geschürztem Schnäuzchen“ beschriebene – Kerr für sich beanspruchte, ist den meisten von uns Heutigen fremd geworden. Postheroisch verlief  unsere Erziehung des Herzens und des Kopfes; den Übermut, mit den Dichtern auf gleicher Höhe zu operieren, bringen wir nicht auf. Wir wollen keine Künstler bzw. Schriftsteller oder Dichter sein – jedenfalls kann ich das für mich in aller Eindeutigkeit sagen. Im Gegenteil ist mir immer bewusst gewesen, dass die Entscheidung für die Kritik bedeutet, auf der anderen Seite zu stehen. Es bedeutet, sich zugleich als Diener und Nutznießer zu sehen; nicht als gleichberechtigter Meister. Ich bin es, die von der Literatur profitiert; dann erst profitiert eventuell – im Glücksfall – die Literatur von der Kritik. Das mag kein Naturgesetz sein, es entspricht schlichtweg meiner Auffassung von Kritik.
 
Trotzdem: Im Unterschied zu einigen geschätzten Kollegen glaube ich nicht an eine Krise der Kritik (höchstens an eine Krise ihrer Rahmenbedingungen). Ich glaube, dass die Kritik dringend benötigt wird – als ästhetisches und gesellschaftliches Verständigungsinstrument, als Bindeglied zwischen Verlagen und Lesern, vor allem aber als deutende Anerkennung des literarischen Werks. Kritik ist die direkte, systemimmanente und erste öffentliche Antwort auf die schriftstellerische Anstrengung. Es soll in den Chefredaktionen großer Zeitungen inzwischen die Auffassung nicht mehr tabu sein, Kritik für eine überkommene Gattung zu halten. Das ist ein schwerer Irrtum, dem unbedingt Widerstand zu leisten ist. Denn nicht zuletzt hält Kritik eine Gemeinschaft zusammen, weil sich über diese Gattung verständigen lässt; echte Kritik, die ihre Kategorien transparent macht.

Seit ich als Kritikerin arbeite, und die meiste Zeit davon als Redakteurin, versichern mir Verlagsleute, die Kritik sei ökonomisch völlig irrelevant. Anfangs hat mich das eingeschüchtert. Nach all den Jahren aber erscheint mir das als kalkulierte Verzerrung. Richtig ist, dass Verlage weniger Anzeigen schalten als früher, ihre Gründe sind selbstverständlich zu respektieren. Richtig ist aber auch, dass sie wie eh und je mit Zitaten namhafter Kritiker aus namhaften Medien werben. Nicht der Kritiker ist, wie immer mal wieder zu hören ist, bestochen von den Verlagen – ein hartnäckiges Ressentiment. Die Kritiker sind vielmehr eine unterbezahlte, gelegentlich bis an die Ausbeutungsgrenze ausgepresste Kaste. Die Substanz des Kritikers, seine mit Autorität gepaarte Leidenschaft, ist heiß begehrt, und sie ist so nahrhaft und süß wie Honig. Ein Lob des richtigen Kritikers kann Berge versetzen. Dass die kritische Leidenschaft sich auch gegen die Bücher, Werke und Schriftsteller richten kann, versteht sich von selbst; schließlich ist der Verriss eine Variante der Kritik. Leidenschaft zeigt sich nicht in billiger Begeisterung (auch so ein verbreiteter Irrtum), sondern in einer Haltung, die von der unhinterfragten Relevanz der Literatur zeugt, von ihrer Unverzichtbarkeit für das Leben.

Genau diese Haltung hatte Peter Suhrkamp im Sinn, als er 1947, noch vor der Währungsreform und ein Jahr vor dem Tod Alfred Kerrs, in Berlin-Friedenau zu Buchhändlern sprach. Die Rede, erschienen als feine Broschur in der Friedenauer Presse Anfang der siebziger Jahre, hat Katharina Wagenbach-Wolff mir anlässlich der Preisverleihung  freundlicherweise zugeschickt, und gern gehe ich darauf ein. „Das Dichten darf nicht aufhören“, beschwor Peter Suhrkamp seine Zuhörer. „Ohne ein lebendiges Dichten verkümmert in den Menschen die Fähigkeit, die Welt in ihrer Tiefe zu erfassen, ja sogar die Fähigkeit, Vorgänge des eigenen Innern zu empfinden.“ Dass es einer „Elite“ vorbehalten sei, Literatur in dieser Tiefendimension zu erfassen, stand für ihn außer Frage; daran darf einmal erinnert werden, heute, wo Elite wieder ein Schimpfwort zu werden droht oder schon geworden ist, wie unlängst die Guttenberg-Affäre in ihren unheimlichsten Momenten zeigte. Peter Suhrkamp unterschied wohlweislich zwischen der „Verbreitung“ von Büchern und der „Entfaltung“ von Literatur; und wie sehr möchte man ihm darin zustimmen. Kritik sollte sich für jene Entfaltung zuständig fühlen, nicht für den Absatz.

In Kerrs Berliner Briefen stieß ich auf eine aufwühlende Passage über die Dreyfus-Affäre der vorletzten Jahrhundertwende um den wegen Hochverrats unschuldig verurteilten jüdischen Militär Alfred Dreyfus; Kerr schreibt: „Wütende Tigernervosität wird das Merkmal der allgemeinen innersten Stimmung. Und mag der Hauptmann schuldig oder unschuldig befunden werden: diese Erscheinungen sind das Bleibende an den zufälligen Vorgängen, und sie fesseln in Berlin am meisten.“ Was sich hier offenbarte, war laut Kerr der „nationale Bestiencharakter“, der Antisemitismus der französischen Gesellschaft, der sich in der deutschen Presse munter fortsetze. Der Anti-Intellektualismus und Anti-Elitismus, der in der Guttenberg-Affäre zutage trat – gerichtet gegen eine wissenschaftliche Community, deren Beharren auf selbstverständlichen Standards von erschreckend weiten Kreisen der Lächerlichkeit preisgegeben werden sollten -, konnte einem vorkommen wie eine Wiederkehr der Dreyfus-Affäre unter verdrehten Vorzeichen. Insofern ist es eine erstaunliche und im demokratischen Sinne schöne und beruhigende Pointe, dass am Ende die Beharrungskräfte der Textkritik – einer kollektiven, radikal nicht-kommerziellen, idealistischen Textkritik, Stichwort „GuttenPlag“ – über die „nervöse Tigernervosität“ triumphieren konnten. Das textkritische Kollektiv machte es wie Alfred Kerrs Berliner Wirt; es hielt ein Plakat hoch, auf dem stand: „Hier darf nicht geklaut werden.“

Was lässt sich für die Literaturkritik daraus ableiten? Vielleicht dies: Als philologisches Instrumentarium sollte Textkritik von der Literaturkritik nicht preisgegeben werden; die Tendenz, den sogenannten „Inhalt“ von Romanen mit Puderzucker zu bestreuen und eine Prise Ergriffenheit als Sahnehäubchen draufzusetzen, lässt sich nicht übersehen. Literatur bezieht ihre Kraft aber aus ihrer Machart, aus Melodie, Wortschatz, Stil, auch aus dem Gespräch mit anderen Literaturen. Wenn wir die Machart aus den Augen verlieren, dann geben wir die Literatur preis, und das wird natürlich wieder niemand gewollt haben.

Ich danke den Jurymitgliedern für die ehrenvolle Auszeichnung mit dem Alfred-Kerr-Preis, die mich ermuntert weiterzumachen, und Clemens Meyer, einem der mir liebsten Schriftsteller der jungen Generation, danke ich ganz herzlich für den Rollentausch – der mich sehr gefreut und gerührt hat der natürlich die Ausnahme bleiben muss.

Ina Hartwig, Leipzig am 17. März 2011