Interview mit Boualem Sansal

"Wir brauchen die internationale Unterstützung"

26. Februar 2015
von Börsenblatt
Der algerische Schriftsteller und Essayist Boualem Sansal ist Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2011. Er lebt und schreibt trotz staatlicher Repressalien in seiner Heimat. Sein Werk ist ein aktiver Beitrag zur Überwindung historischen Versagens und ideologischer Verblendung in Algerien und in der arabischen Welt.

Als Sie die Nachricht erhielten, dass Sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten – was war Ihre erste spontane Reaktion?
Boualem Sansal: Ich habe es nicht geglaubt. Ich dachte, es wäre ein Witz. Dann habe ich den schönen Brief von Börsenvereinsvorsteher Gottfried Honnefelder an mich gelesen, dem eine Liste der Preisträger aus den Vorjahren beigefügt war. Das fand ich sehr beeindruckend.

Ist der Friedenspreis ein Zeichen der Hoffnung für Sie und Ihr Land?

Sansal: Absolut. Der Preis kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Die Menschen in den arabischen Ländern kämpfen gerade für die Freiheit – und der Frieden ist für sie die Freiheit. Für mich und für uns ist das toll.

Manchmal hat man ja den Eindruck, dass die Unterstützung durch die europäischen Regierungen ein bisschen scheinheilig ist …
Sansal: Im Augenblick unterstützt uns hier in Algerien niemand. Die westlichen, demokratischen und freien Länder haben vor allem die Diktaturen unterstützt. Sie glauben nicht an diese Völker. Sie behaupten, die Völker des Südens, die Araber, die Schwarzafrikaner seien nicht reif für die Freiheit. Aber in der Geschichte waren es diese Länder, die gegen die Länder des Nordens gekämpft und sich von der Kolonisierung befreit haben. Es gibt eine historische Schuld der westlichen Länder, und es ist deshalb kein Wunder, dass sie Realpolitik betreiben und mit den Diktaturen zusammenarbeiten.

In Ihrem Essay „Postlagernd: Algier“ schreiben Sie, das der arabische Nationalismus eines der Probleme auf dem Weg zur Demokratie sei, das andere der radikale Islam …
Sansal: Ja, das ist ein großes Problem. Die Diktaturen haben keine Legitimation, also konstruieren sie sich eine, indem sie behaupten, ihre Länder befreit zu haben. Aber es waren die Völker selbst, die sich befreit haben. Diese Form der Legitimierung funktioniert nicht mehr. Also haben die Regierenden auf neue Verfahren der Legitimation gesetzt – darunter auch auf den arabischen Nationalismus. Die Nationalisten sagen, der Westen hat uns abgehängt, daher müssen wir uns vereinigen. Aber auch das geht nicht auf, weil es niemanden gibt, der der Kopf dieser Bewegung sein könnte. Also richtet man seinen Blick lieber auf die Feinde der Nation – die Christen oder Israel beispielsweise.

Glauben Sie, dass es eines Tages eine Lösung für die aktuelle Situation geben wird? Im Augenblick findet in Algerien ja nicht die Rebellion statt wie in Tunesien oder Ägypten …
Sansal: Was jetzt in den Nachbarländern geschieht, hat in Algerien schon im Oktober 1988 begonnen. Damals gab es mehrere Tage lang riesige Demonstrationen, und die Armee begann wie in Libyen auf die Leute zu schießen. Und danach schlug die Staatsgewalt einige Konzessionen vor, die es ihnen erlaubten, den Aufstand zu beenden. Wenig später begann der Staat damit, unmerklich, Schritt für Schritt, die Freiheiten wieder zurückzunehmen, die er zuvor zugestanden hatte. Für Ägypten heißt das: Wenn die Bürger nicht wachsam sind, kehren die Kräfte des alten Regimes wieder zurück. Im Augenblick gibt es viel Sympathie weltweit für die Völker in der arabischen Welt. Und sie brauchen auch die Unterstützung der internationalen Organisationen wie der UNO und der Europäischen Gemeinschaft.

Und was könnte dann der Beitrag der Literatur sein?
Sansal: Man braucht Diskussionen, man muss die Debatten befeuern – über die Wirtschaft, über die Politik, über Philosophie, über alles. Das ist die Aufgabe der Journalisten, auf einer ersten Ebene. Auf der zweiten Ebene ist das Geschäft der Politik angesprochen, die konkrete Lösungen erarbeiten und Handlungsvorschläge machen muss. Schließlich gibt es auf der dritten Ebene die Schriftsteller, die über all diese Dinge diskutieren und gewisse fundamentale Elemente der menschlichen Existenz finden – wie die Vorstellungskraft, die Identität, die Gefühle oder die Empfindsamkeit.

Und um darüber zu schreiben, sollte der Schriftsteller im Land selbst leben …
Sansal: Ich glaube, dass das eine fundamentale Voraussetzung (für die Glaubwürdigkeit) ist, im eigenen Land zu bleiben. Wenn Solschenyzin den „Archipel Gulag“ in New York geschrieben hätte und nicht im Gulag selbst, hätte das Werk nie die Bedeutung erlangt, die es hat. Und es gibt noch einen anderen Grund, um im Land zu bleiben: Die jungen Menschen brauchen ein Vorbild, dem sie folgen können.

Interview: Michael Roesler-Graichen

 

Biographie
Boualem Sansal wird am 15. Oktober 1949 in Teniet el-Had, einem kleinen Bergdorf ca. 250 Kilometer südöstlich von Algier geboren. Nachdem sein Vater bei einem Autounfall ums Leben kommt, zieht die Familie 1950 zu den Großeltern nach Vialar (heute Tissemsilt) südlich des Atlasgebirges, das Sansal später zum Schauplatz seines zweiten Romans macht. Während des algerischen Bürgerkriegs (1954-1962) flüchtet die Familie 1956 in die algerische Hauptstadt, die sie jedoch während des Höhepunkts der Gewalt noch einmal verlassen muss. Nachdem Algerien im Juni 1962 die Unabhängigkeit erlangt, kehrt die Familie nach Algier zurück und lebt dort im Arbeiterviertel Belcourt. Nach dem Besuch des Gymnasiums und einem Ingenieursdiplom in Maschinenbau promoviert Boualem Sansal 1975 im Bereich Industrielle Wirtschaft. Parallel dazu unterrichtet er Statistik an der Polytechnischen Hochschule und arbeitet als Unternehmensberater. Die weitere berufliche Karriere von Boualem Sansal verläuft zunächst erfolgreich. So übernimmt er 1986 den Posten des Generaldirektors einer Consulting-Firma. 1992 wird er zum Berater des Handelsministeriums berufen und 1996 zum Generaldirektor im Ministerium für Industrie und Umstrukturierung ernannt.
Der Schriftsteller Rachid Mimouni, mit dem ihn seit seiner Studienzeit eine enge Freundschaft verbindet, animiert Boualem Sansal schließlich zum Schreiben. Unter dem Eindruck der Ermordung des algerischen Präsidenten Boudiaf im Jahr 1992 und der politischen Realität des vom Bürgerkrieg gebeutelten Landes, in der die Islamisierung der Gesellschaft zunimmt, beginnt er 1996, ein Jahr nach dem Tod von Rachid Mimouni im Pariser Exil, mit seinem ersten Roman »Le serment des barbares«, der 1999 vom französischen Verlag Gallimard veröffentlicht wird (dt. »Der Schwur der Barbaren«, 2003).
Im Mittelpunkt des Kriminalromans steht Kommissar Si Larbi mit seinen Ermittlungen in einem Mordfall. Als dieser Zusammenhänge mit einem anderen Verbrechen aufdeckt, gerät er in die Schusslinie der politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und religiösen Eliten und ihrer Handlanger. Die in der Geschichte offen geäußerte Kritik an der politischen Situation in Algerien veranlasst seinen Verlag Gallimard, Boualem Sansal zu raten, den Roman unter Pseudonym zu veröffentlichen, was dieser jedoch ablehnt. In Frankreich wird der Roman mit großer Begeisterung aufgenommen und, nach einem Drehbuch von Jorge Semprún, auch verfilmt. Sansal wird mit der Veröffentlichung des Romans in Algerien von seiner Arbeit im Ministerium beurlaubt. 2003 wird Sansal nach kritischen Äußerungen über den algerischen Präsidenten Bouteflika endgültig aus dem Staatsdienst entlassen.
Boualem Sansal lebt heute im Küstenort Bourmerdès, in der Nähe von Algier. Nach einer ersten Ehe mit einer Tschechin, mit der er zwei Töchter hat, ist er seit 1986 mit einer Algerierin verheiratet.

 

Weitere Werke

L'enfant fou de l'arbre creux (2000); dt. Das verrückte Kind aus dem hohlen Baum (2002)

Journal intime et politique. Algérie 40 ans après (2003)

Dis-moi le paradis (2003); dt. Erzähl mir vom Paradies (2004)

Harraga (2005); dt. Harraga (2007)

Poste restante: Algier. Lettre de colère et d'espoir à mes compatriotes (2006); dt. Postlagernd: Algier. Zorniger und hoffnungsvoller Brief an meine Landsleute (2008)

Le village de l'Allemand ou le journal des frères Schiller (2008); dt. Das Dorf des Deutschen (2009)

Sansals Bücher werden in Frankreich von Gallimard verlegt, die deutschen Übersetzungen liegen im Merlin Verlag Gifkendorf vor.