55 Thesen zum Buchmarkt

Hausvater mit twitternden Kindern

20. Juni 2011
von Börsenblatt
Es gebe keinen Grund, die gegenwärtigen Veränderungen im Buchwesen als plötzliche Einbrüche in eine intakte Welt der körperlichen Bücher und der kreativen Verlagsprogramme zu verstehen, sagt der frühere Luchterhand-Verleger Hans Altenhein in seinem Beitrag zu den 55 Thesen zum Buchmarkt 2025  – und empfiehlt eine Denkpause:
„Die Revolution des Buches hat begonnen“ – das schrieb der französische Literatursoziologe Robert Escarpit in einem Buch, das 1965 von der UNESCO herausgegeben wurde. Er unterschied zwar zwischen dem Buch als Objekt, dem Buch als Gebrauchsgut und dem Buch als literarischem Medium, erkannte aber ein durchgehendes und entscheidendes gemeinsames Merkmal: „Was das Buch ausmacht, ist seine Verbreitung. Daraus folgt, dass alle Veränderungen dieses Mediums in direkter Verbindung zu technischen Innovationen stehen. Die passen es immer wieder den Bedürfnissen an, die aus der Niederschrift der Autoren und deren Übermittlung an die Gesellschaft  entstehen.“
Das klingt wie eine Vorausschau auf das digitale Zeitalter, aber die Revolution, die Escarpit meinte, war der Siegeszug des Taschenbuchs, der gerade in vollem Gang war, der den Buchvertrieb gründlich veränderte, aber nicht wirklich zu einer Umgestaltung der schriftlichen Kommunikation führte.
Während hier noch in den Kategorien von Buchproduktion und Buchvertrieb über Veränderungen nachgedacht wurde, hatte sich schon etwas anderes ereignet. Unter den Stichworten „Medienkonkurrenz“ und „Medienverbund“ schien in den 1960er Jahren das Buch vor allem in der Wissensvermittlung seine Stellung als Leitmedium zu verlieren und anderen, sprach- und bildgebenden Medien neben sich Platz zu machen. Übertragungsmedien wie  Fernsehen und Radio, transportable Speichermedien wie Tonband, Foto und Film wurden als gleichwertige oder überlegene Informationsträger angesehen, von „Neuen Medien“, wie Videokassetten, wurde allenthalben gesprochen. Zwar war diese Medienwelt noch analog, aber in Anthony Oettingers Buch „Run, Computer, Run“ von 1969 wurde dann schon die digitale Revolution der Wissensvermittlung einer kritischen Analyse unterzogen.

Es gibt also keinen Grund, die gegenwärtigen Veränderungen im Buch-, Zeitungs- und Bibliothekswesen wie im personalen Schriftverkehr als plötzliche Einbrüche in eine intakte Welt der körperlichen Bücher, der kreativen Verlagsprogramme und der Lesesituationen in Buchhandlungen und Bibliotheken, in Wohnzimmern und Büros zu  verstehen. Der Wandel kam stetig und über viele Jahre. Es ist nicht so, dass der vorlesende Hausvater sich plötzlich von twitternden Kindern umgeben sieht, aber manche Kommentare lesen sich so.

Eine Folge dieser Überfall-Empfindung ist die Verklärung der Vergangenheit zu Lasten der Gegenwart. Die inhabergeführte Buchhandlung verschwindet. War sie der einzig mögliche Stützpunkt der literarischen Kultur?  Der Mensch mit dem Buch in der Hand: War er 1907, als Hofmannsthal ihn beschwor, „die Geste unserer Zeit“? Autoren denken über ihre Selbstverbreitung nach. Tun sie das nicht seit Beginn des Massenmarkts mit Büchern vor über 200 Jahren? Der Börsenverein verwandelt sich zum Logistikzentrum. War er das nicht immer schon? Bibliotheken laden Texte. Ändert das die Texte?

Auch eine Folge des Beschleunigungsgefühls: Die Akutsprechstunden sind überlaufen. Das e-Wort beherrscht alle Gespräche. Jeder fragt nach Überlebensstrategien. Wie können Prognosen, die bis 2025 reichen sollen, elastisch genug berechnet werden? Aufregung auf allen Podien. Zu den hervorragenden Kulturleistungen der Menschheit gehört aber die Verknüpfung von Gestern, Heute und Morgen. Die Buchbranche zuallererst sollte sich ihrer bedienen und nicht gebannt auf den Sekundenzeiger blicken. Kultureller Wandel ist oft schmerzlich, aber er vollzieht sich nicht in kurzen Sprüngen, wie der Modellwechsel in der IT-Industrie. Er erfordert List, Einsicht und Geduld, den prüfenden Blick nach vorn und zurück, eine floskellose Sprache. Rücksicht auf die Bedürfnisse von Autoren und Lesern. Und manchmal einfach eine Denkpause.