Deutscher Buchpreis 2011 - Shortlist

Sublime Sprache und starke Figuren

26. Februar 2015
von Börsenblatt
Die Shortlist des Deutschen Buchpreises steht fest: Sechs sehr unterschiedliche Bücher haben nach Meinung der Juroren das Zeug zum besten Roman des Jahres 2011. Der Literaturkritiker Wolfgang Schneider stellt sie hier vor.

Jan Brandt
»Gegen die Welt«
DuMont, 928 S., 22,99 Euro

 ➤ »In Aurich ist es schaurig, in Leer noch viel mehr«: Jan Brandt schickt den Leser ins ostfriesische Jericho. Dort kann er das Leben auf »Normalnull« in aller Detailfülle kennenlernen. Statt cooler Clubs – dampfende Güllelaster, dazu Drogeriebesitzer, Bauunternehmer und die Landjugend mit ihren Mopeds. Hier Schützenfeste und Skatrunden, dort Science-Fiction und Metal-Musik in diversen Spielarten. Wie eine liebevoll gebastelte Märklin­-Modelleisenbahn-Stadt baut Brandt seine große kleine Welt zwischen Friesenhuus und Schuh-Schröder, in der es aber auch ominöse Kornkreise, grassierenden Homosexualitätsverdacht, verkappte Nazis und andere biblische Plagen gibt – und Mitschüler Peter Peters gemobbt wird, bis er vor einen Zug läuft. Das Ostfriesland-Epos bietet nach Gerhard Henschel eine weitere Erforschung von Provinzjugend und Popkultur; einmal mehr werden die Konsumwelt und die Markennamen der Vorwende-Bundesrepublik ge­listet. Zum archivalischen Realismus kommt hier eine paranoid-verschwörerische Handlung: Drogistensohn Daniel Kuper gegen ein ganzes Dorf. Ob tatsächlich Außerirdische landen, bleibt offen – ganz sicher aber kommt Schlecker und würgt Vaters Drogerie die Luft ab. »Gegen die Welt« ist ein Debüt, das aufs Ganze geht.

 

 

Michael Buselmeier
»Wunsiedel«
Das Wunderhorn, 160 S., 18,90 Euro

➤ Im Sommer 1964 macht sich Moritz­ Schoppe mit einer theatralischen Sendung auf ins Oberfränkische – in Wunsiedel soll er bei der Inszenierung von Goethes »Götz« mitspielen. Schwere Des­illusionierungen warten auf ihn. Eine­ Jugendliebe zerbricht, die seit Kinderzeiten genährte Liebe zum Theater wird an der Freilichtbühne Luisenburg zuschanden. Schoppe, Einzelgänger und selbstdenkender Kopf, eckt an im provinziellen Schauspielbetrieb, und der Roman rechnet wortmächtig ab mit all den Intriganten, Rampensäuen, Kantinenhockern und gewerkschaftlich organisierten Maulhelden. Abgestoßen von den Eitelkeiten der Bühne, flüchtet Schoppe zu den Büchern – und Buselmeier reichert seinen Roman an mit Literatur­geschichte, mit Jean-Paul-Lektüren und »Wilhelm Meister«, Mörikes Melancholie und Stifter’scher Betrachtung der fränkischen Natur. »So hell und warm das Mittagslicht über dem Tal, voller Insektengesumm und Sommerfalter, und die Luft so würzig und heilsam.« Würzig und heilsam wirkt auch die sublime Sprache dieses Romans. »Wunsiedel«, ein Buch voller Poesie und Polemik, ist der Überraschungskandidat sowie der einzige Frühjahrstitel auf der Liste. Und hat einen zweiten Frühling verdient.

 

 

Angelika Klüssendorf
»Das Mädchen«
Kiepenheuer & Witsch, 192 S., 18,99 Euro

➤ Die DDR wirkt bei Angelika Klüssendorf noch erstaunlich gegenwärtig – als sozial verwahrloster Sozialstaat. Kindheit im Rohzustand: Suff und Sadismus einer Rabenmutter und eines nur sporadisch auftauchenden Kuckucksvaters bestimmen das Leben des Mädchens und ihres Bruders Alex. Die Spiele der Kinder haben die Destruktivität und selbstschädigenden Tendenzen aufgenommen – wenn sie etwa versuchen, Autofahrer zu ärgern, indem sie haarscharf vor ihnen über die Straße rennen. Was nicht immer gut geht.  Bald kommt noch ein kleiner Bruder dazu: »Kaum beginnt Elvis zu brüllen, hat die Mutter in der Regel dringende Dinge zu erledigen und verlässt die Wohnung.« So kümmert sich das Mädchen um Elvis – Momente des Glücks. Später führt ihr Weg durch Heime und Arrestzellen, sie wird gemobbt und lässt sich in einer beklemmenden Szene den Arm brechen – aber sie ist ein starker Charakter, der sich durch Schmutz und Gemeinheit einen Weg ans Licht bahnen wird. Gerade in dieser Widerstandskraft, die etwas von Grimmelshausens Courage hat, besteht die Faszination – die im zweiten Teil des Buchs ein wenig nachlässt, wenn eher profane Pubertätsnöte folgen. Ein heftiges, bewegendes Buch.

 

 

Sibylle Lewitscharoff
»Blumenberg«
Suhrkamp, 220 S., 21,90 Euro

➤ Der Löwe ist das metaphysische Wappentier in Lewitscharoffs Roman – Sendbote aus einer anderen Welt, Stellvertreter des Absoluten. Beschreibungsmächtig verleiht die Autorin der Schimäre Präsenz. Als »Zuversichtsgenerator« liegt der Löwe in der Nähe, wenn der Philosoph nächtelang diktiert, trottet aber auch – unsichtbar für gewöhnliche Kommilitonen des Lebens – bei seinen Vorlesungen durch den Mittelgang. Dort sitzt die Studentin Isa, unerbittlich in ihren Professor verliebt; bald überrascht sie den Leser mit ihrem brutalen Selbstmord. Übel erwischt es auch den Doktoranden Richard: In Brasilien wird ihm ein Messer ins Herz gerammt. Nein, es geht nicht gut aus für die Blumenberg-Studenten: Ein Reigen makabrer Todesfälle bildet Kontrapunkte zum feingeistigen Hauptthema dieser philosophischen Fantasie. »Blumenberg« ist eine Hommage auf einen Geisteswissenschaftler, der kein »philologischer Raspelwerker« war, sondern ein »Weltbenenner«, der eine Pranke hatte. Zum literarischen Kunstwerk wird der Roman durch die gewitzte, bildkräftige, präzis-preziöse Sprache, mit der Lewitscharoff ihren Rang als eine der stärksten Stilis­tinnen der deutschen Gegenwartsliteratur festigt.

 

 

Eugen Ruge
»In Zeiten des
abnehmenden Lichts«
Rowohlt, 432 S., 19,95 Euro

➤ 1952 kehrt eine Emigrantin aus Mexiko in die DDR zurück. Die gelernte Kunststopferin Charlotte Powileit­ soll Direktorin am Institut für Literaturwissenschaft in Berlin werden: Die Partei macht’s möglich. Leider aber ist ihr Förderer soeben in die Mühlen des Spätstalinismus geraten. Das ist eine der Geschichten, die in diesem Familienuntergangsroman über vier Generationen die Entwicklung des Kommunismus in Deutschland erzählen. Geschichten, die sich spiegeln, korrespondieren, einander widersprechen und vieles in den Zwischenräumen belassen. Ein bedeutendes Buch, souverän orchestriert, angenehm unprätentiös geschrieben. Mit den »Buddenbrooks« wird der Roman ver­glichen, mit denen er auch das Bemühen gemein hat, die leibwarm autobiografische Geschichte auf kühlende Distanz zu bringen. Aber die tragische Fallhöhe fehlt. Thomas Mann karikiert die Welt von Anstand und Leistung – und bleibt doch vom Bürgersinn fasziniert. Für Ruge ist die sozialistische Ethik wie das historische Werk seiner Figur Kurt Powileit: Makulatur. Ruge ist der Gebärdensammler einer ent­kernten Welt – das hat große Reize, aber die Sozialismusdämmerung von 2011 besitzt dann doch weniger Pathos und Ironie als der Bürger-Verfall von 1901.

 

 

Marlene Streeruwitz
»Die Schmerzmacherin«
S. Fischer, 400 S., 19,95 Euro

➤ Amy Schreiber, Mitte 20 und antriebslos, hat bei einer Security-Firma angeheuert – Waffenhandwerk hat Zukunft in Zeiten des aufgeweichten Gewaltmonopols. Sie erhofft sich spannende Aufträge, Wichtigkeit. Zum militärischen Training gehören die Regeln des Verhörs und der kontrollierten Folter. Aber für eine Lara Croft ist sie zu soft. Ihr Körper und noch mehr ihre Seele sind die wahren Schmerzmacher. Amy stammt aus zerrütteten Verhältnissen, schleppt einen Grauschleier durchs Leben, kommt nur mit Wodka in den Tag, erleidet eine Fehlgeburt. Statt Action: Befindlichkeiten einer Versehrten. Im Gewaltgeschäft lernt Amy Misstrauen und Paranoia. Was hat der Gefesselte im Schnee zu bedeuten? Warum werden ihrem Freund Gino die Kniescheiben zertrümmert? Eine Welt voller Machenschaften, die undurchsichtig bleiben. Marktgängiges Thriller-Lesefutter will Streeruwitz nicht liefern. Der thematische Hintergrund des Romans – Sicherheit als Ware in Zeiten der Angst – ist höchst relevant. Die Streeruwitz-Manier der kleingehackten Sätze und des gewollt Ungeschönten (»Sie hatte das Aufladekabel für ihr handy vergessen, und Uhr trug sie keine.«) jedoch sehr gewöhnungsbedürftig.