Gastspiel

Es steht geschrieben

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Die Literatur triumphiert – im Kino. Aber wie werktreu müssen Verfilmungen sein? Von Wolfgang Schneider.

In den Anfängen verschaffte sich der Film künstlerische Legitimation, indem er große literarische Stoffe übernahm. Dass er in seinen frühen Tagen am etablierteren Medium klebte, verwundert nicht – auch die ersten Autos sahen schließlich noch aus wie Kutschen. Erstaunlich aber ist es, dass der Film nach einem Jahrhundert der ständigen Perfektionierung seiner Mittel immer noch vom literarischen Blut lebt. Ob die "Bis(s) zum Harry der Ringe"-Zyklen, ob Fantastisches wie "Benjamin Button", Mörderisches wie "Vergeltung" oder Liebesdramatisches wie "Zeiten des Aufruhrs" – nach wie vor basieren große Kinoerlebnisse auf literarischen Vorlagen.

Viele Filme nimmt man dabei kaum als Literatur-Adaptionen wahr, etwa "Fight Club" nach dem Roman von Chuck Palahniuk oder die Werke des Altmeisters Hitchcock. Manchmal erscheinen die Bücher angesichts des Ruhms der Verfilmung bloß noch als blasses Beiwerk ("Uhrwerk Orange"), aber es gibt auch Bücher und Filme, die zu untrennbaren Zwillingen wurden ("Frühstück bei Tiffany"). An anderen Lektüren – "Alice im Wunderland", über 15-mal verfilmt – scheint die hartnäckige Liebe der Regisseure spurlos vorüberzugehen.

Der Strom fließt nur in eine Richtung: Zahllosen Verfilmungen von Romanen stehen keine nennenswerten Romane nach Filmen gegenüber. Dennoch hat sich die Literatur vom Film stark beeindrucken lassen. Filmische Schreibweisen schon bei Kafka und Döblin; Soap-Ästhetik aktuell zum Beispiel bei Helmut Krausser. Bei "Harry Potter" nahmen die Bücher die Filme implizit schon vorweg, indem sie sich wie solche lasen.

Der Hauptunterschied zum Film besteht darin, dass der Erzähltext in den Menschen hineinsehen kann. Introspektion ist der Trumpf der Literatur und neben den unvermeidlichen Kürzungen ein Hauptgrund dafür, warum viele Verfilmungen großer Werke flach und unbefriedigend wirken. Schon in "Krieg und Frieden" sind eben nicht nur die Schlachtfelder und Ehebetten, sondern auch die psychischen Innenwelten aufgewühlt. Zum Scheitern verurteilt sind Verfilmungen von Romanen, bei denen der besondere sprachliche Gestus des Erzählens entscheidend ist – etwa Thomas Manns umständemachende Ironie.

Der Leser freut sich, wenn ein Lieblingsbuch zu Filmehren kommt; andererseits wird reflexhaft beklagt, dass der Film die Vorlage verfälsche oder hinter dem Lektüreerlebnis zurückbleibe. Das Schönste am Medientransfer ist aber doch, dass er so ausgiebig Anlass gibt zum Vergleichen und Diskutieren, Wiedererkennen und Vermissen, Loben und Ärgern. 65 Millionen Stieg-Larsson-Leser streiten um die Korrektheit des Kinos. "Es steht geschrieben" – und der Buchstabe soll gelten, ob "Dracula" in 3-D oder "Die Rache der Wanderhure" (beides in Kürze).

Der Trend geht zum vorsichtigen Regisseur, der es sich mit der kritischen Masse der Lesermillionen nicht verderben will und der – wie Peter Jackson bei der mit Spannung erwarteten "Hobbit"-Verfilmung – das Gespräch mit Lesern im Internet sucht. Wenn es aber nur noch darum geht, deren Vorstellungen zu befriedigen, kann keine Filmkunst entstehen. Denn die besten Verfilmungen öffnen Imaginationsräume, mit denen der Leser nicht gerechnet hat. So wie "Apocalypse Now", wo Francis Coppola den Kongo Joseph Conrads um 100 Jahre und 8.000 Kilometer versetzte, mitten in den Vietnamkrieg. Das war mal eine Idee.