Biografische Literatur

Zeitzeugen, Zeitzeichen

5. März 2012
von Stefan Hauck
Geschichte ist die Summe vieler Einzelschicksale. Authentische Lebensberichte berühren und sind auf dem Buchmarkt gefragter denn je – eine Auswahl.

Dass Biografien von Prominenten Anklang finden – klar. Aber warum sind Erzählcafés so beliebt, sind Leser neugierig auf die Schicksale der Menschen von nebenan? Literaturprofessor Peter von Matt konstatierte jüngst in der "NZZ" eine "Krise der großen Geschichtsschreibung" und eine Hinwendung "zu kleinen und nahen Geschichten". In persönlichen Lebensläufen wird der Lauf der Geschichte greifbar, die individuellen Erinnerungen lassen "Schneisen aufblitzen ins Universelle": So formuliert es Peter Handke im Vorwort zu Valentin Hausers Buch "Greutschach. Ein Bergdorf erzählt" (Wieser, 230 S., 24 Euro). Hauser hat darin eine bunte Mischung von Ereignissen zusammengetragen, die Einblicke in das einfache Leben und die Entwicklung eines ganzen Tals im 20. Jahrhundert geben.

Manchmal muten selbst Geschichten aus der Gegenwart wie eine Zeitreise in die Vergangenheit an – dazu gehört die Kindheit von Mary-Ann Kirkby, die in einer kanadischen Hutterer-Gemeinschaft aufgewachsen ist. In dieser abgeschotteten Welt wird seit 450 Jahren Kärntner Dialekt gesprochen, und Kirkby berichtet in "Ich bin eine Hutterin" (SCM Hänssler, 256 S., 16,95 Euro) ungemein lebendig von jahrhundertealten Denk- und Verhaltensweisen, die moderne Zeit-genossen zum Staunen bringen.

So behütet aufzuwachsen wie Kirkby – dieses Glück haben nicht alle. Einsamkeit ist die prägende Erfahrung zweier Kinder in der Sowjetzeit. Elisabeth Markstein ist schon als Siebenjährige auf sich allein gestellt, die Eltern sind meist in Aufträgen für den Sieg des Kommunismus unterwegs. Sie wohnt – aus Kinderperspektive – zunächst relativ sorglos im berüchtigten Moskauer Hotel Lux, erkennt erst nach und nach, vor allem nach 1945 in Wien, wie das sowjetische System funktioniert: "Moskau ist viel schöner als Paris" (Milena Verlag, 180 S., 17,90 Euro) ist ein erkenntnisreiches Buch. Was auch für Wolfgang Ruges "Gelobtes Land" (Rowohlt, 494 S., 24,95 Euro) gilt. Anders als Lisa lernt der 16-Jährige 1933 rasch die dunklen Seiten des Sowjetregimes kennen und wird 1941 für 15 Jahre in ein Arbeitslager deportiert. Schonungslos schildert der Vater des Buchpreisträgers Eugen Ruge den unmenschlichen Alltag im Gulag.

Viele der Augenzeugenberichte in Buchform nehmen Bezug auf die NS-Zeit. Die jüdischen Kinder Amsterdams durften damals nur noch die jüdische Schule besuchen – 65 Jahre später hat sich einer der damaligen Schüler mit fünf weiteren Klassenkameraden getroffen, die die Shoah überlebt haben. Behutsam hat Theo Coster seine Erinnerungen und die der anderen zu einem Mosaik aus Gefühlen und Erfahrungen zusammengefügt: untertauchen, Leben unter falschen Identitäten, Angst, das weiterhin belastende Leben nach der Befreiung. "In einer Klasse mit Anne Frank" (Herbig, 224 S., 17,99 Euro) zeigt – stets reflektierend –, wie Kinder diese Zeit wahrgenommen haben.

Aus diesem Blickwinkel erzählt auch Eva Mozes Kor, die als Zehnjährige nach Auschwitz deportiert wurde. Mit ihrer Zwillingsschwester erduldet sie die menschenverachtenden Experimente des KZ-Arztes Mengele; sie überleben und versuchen, wieder ins Leben zu finden. Ihre Aufzeichnungen "Ich habe den Todesengel überlebt" (cbj, 222 S., 6,99 Euro) sind detailliert und dadurch umso erschütternder.

Eine Großstadt im Ausnahmezustand beobachtet die Krankenschwester Mignon Langnas, die als eine der wenigen Wiener Juden den Krieg überlebt hat. Ihre Tagebucheinträge und Briefe ("Mignon". StudienVerlag, 500 S., 29,90 Euro; Taschenbuch bei Haymon, Juni, 220 S., 9,95 Euro) sind packende, bewegende Zeitdokumente, die direkte Einblicke in den jüdischen Alltag vermitteln, Schicksale, die um Emigration, Schikanen, Solidarität, Deportation und den Willen zu überleben kreisen.

Als "Flaschenpost, dem Strom der Zeit überantwortet", beschreibt Herausgeber Toni Distelberger weibliche Lebensgeschichten, die er aus 3.000 von der Universität Wien gesammelten Aufzeichnungen ausgewählt hat. "Von der Liebe erzählen" hier sechs Frauen, sehnsüchtig, bitter, süß, ernüchtert. Das Buch führt uns zurück in eine Zeit, als die Vorstellungen von Gesellschaft und Moral noch anders waren – nur die Liebe ist dieselbe (Böhlau, 304 S., 24,90 Euro).

Nicht nur in Worten, auch in Zeichnungen legen Autoren Zeugnis ab. Der 22-jährige Maximilien Le Roy etwa hat mit dem gleichaltrigen Mahmoud Abu Srour im Flüchtlingslager Aida bei Bethlehem eine berührende Graphic Novel geschaffen: "Die Mauer" erzählt vom Alltag der Palästinenser – und davon, wie die israelische Sperranlage das Leben zerschneidet (Edition Moderne, März, 104 S., 19,80 Euro).

Die israelische Seite hat Guy Delisle während eines einjährigen Aufenthalts mit seiner Familie genau beobachtet: Seine "Aufzeichnungen aus Jerusalem" (Reprodukt, März, 336 S., 29 Euro) zeigen die Zerrissenheit einer sich permanent bedroht fühlenden Gesellschaft.

Igort wiederum ist in die Ukraine gereist und hat dort Lebensgeschichten grafisch festgehalten. Wie Stalin zur Durchsetzung der Zwangskollektivierung Getreide beschlagnahmen ließ und damit gezielt den Hungertod von Millionen Menschen herbeiführte, wie Staatsterror und unsinnige Planabgaben das Volk ins Elend trieben, das zeigen Igorts "Berichte aus der Ukraine" (Reprodukt, 178 S., 24 Euro) in so eindringlichen Bildern, dass dem Betrachter der Atem stockt.

Eine Auswahl weiterer biografischer Lektüre:

  • Katrin Behr: Entrissen. Der Tag, als die DDR mir meine Mutter nahm. Droemer, 302 S., 16,99 Euro. Erschütternde Lebensgeschichte einer 1967 geborenen Frau, die erst ins Heim muss und dann von einer linientreuen Familie zwangsadoptiert wird, weil ihre Mutter inhaftiert ist. Ab 1990 versucht sie, die verlorenen Lebensfäden wieder aufzunehmen.
  • William Crowne: Blutiger Sommer. Eine Deutschlandreise im Dreißigjährigen Krieg. WBG, 126 S., 24,90 Euro. Der Sekretär eines englischen Gesandten hält das Elend gebrandschatzter Dörfer ebenso nüchtern fest wie Sehenswürdigkeiten und die Arbeit der Diplomaten. Die erste Übersetzung von Crownes Buch.
  • Hans Pleschinski (Hrsg.): Nie war es herrlicher zu leben. Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croÿ. C. H. Beck, 428 S., 24,95 Euro. Beobachtungen und Analysen des höfischen Lebens in Frankreich vor der Revolution, Insider-Details und spannend erzählte Ereignisse.
  • Dora Prinz, Sabine Eichhorst: Ein Tagwerk Leben. Knaur, 286 S., 8,99 Euro. Erfrischend lebhafte Erinnerungen einer alten Magd, die sich nie unterkriegen ließ.
  • Martin Sabrow, Norbert Frei (Hrsg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Wallstein, Juni, 400 S., 34,90 Euro: 16 Aufsätze reflektieren über den Zeitzeugen als Phänomen der öffentlichen Erinnerungs- und Geschichtskultur.