Die Kunst, 1728 Seiten zu übersetzen

Vom Wellenrauschen

8. März 2012
von Börsenblatt
Siebenmal hat sie Péter Nádas' 1700-seitige "Parallelgeschichten" gelesen – und über Jahre hinweg vom Ungarischen ins Deutsche übertragen. Auf boersenblatt.net beschreibt Christina Viragh, vor welchen Schwierigkeiten sie stand und wie sie die Aufgabe bewältigt hat.

Jedes Jahr erinnert ans vorangegangene Jahr, mir jedenfalls geht es so, zu bestimmten Daten, Feiertagen, Jahreszeitenwechseln fällt mir ein, was ich letztes Jahr um diese Zeit getan habe, besser, steigt die Atmosphäre jener Tage herauf.

Jetzt ist es auf einmal Frühling geworden, so strahlendes Wetter wie voriges Jahr, als Ikuyo, Freundin und Meisterin der japanischen Tuschetechnik, ein letztes Mal zu Besuch kam, nach Rom, wo ich lebe. Sie war jemand, der mir Dinge bewusst machte. Die besondere Weichheit der Märzwärme, wenn sie, klein, gebrechlich, sehr alt, auf dem Balkon in der Sonne stand. Das Wesen eines Bambusblatts, wenn sie mit ihrer verkrümmten Hand einen leichten Pinselstrich zog. Meinen Zugang zur Arbeit an Péter Nádas’ Parallelgeschichten, wenn sie einfach ooh sagte, als ich ihr erklärte, das dicke Buch auf meinem Schreibtisch sei der dritte Band einer Übersetzung, an der ich schon fast vier Jahre arbeite. Mit einem Mal merkte ich, dass auch ich ooh dachte, nichts mehr, sondern sogar lieber noch weniger, gar nichts. Ich wollte mir bei dieser Aufgabe, bei der Tatsache, dass ich sie übernommen hatte, nichts denken. Nicht an ihr Ausmaß denken, nicht an ihre Schwierigkeiten, nicht einmal an ihre Freuden. Sondern an meiner Strategie, die mir als solche auch erst da bewusst wurde, festhalten.

Die der Ablenkung.

Mich, wenn ich nicht an der Arbeit saß, nicht mit dem Text befassen. Nicht über Formulierungen grübeln, auch wenn mir mein Hirn im Halbschlaf oft ungebeten, aber dann doch nützlicherweise, Ausdrücke und zuweilen ganze Sätze präsentierte. Mich nicht mit Kristóf abgeben, und wenn er noch so die zentrale Figur des Romans ist und mich an den Autor, und nicht nur an ihn, sondern auch, in gewissen Aspekten, an mich selbst erinnert. Nicht mit dem Architekten Madzar, obwohl er mich in seiner einsamen Zielgerichtetheit besonders anrührt. Nicht mit dem jungen Döhring, den ich in seiner altklugen Unsicherheit nicht mag und mit dem ich also am meisten gerungen habe. Nicht mit der Frauengruppe um die Gräfin Szapáry, obwohl die mich an die Freundinnen meiner Mutter und überhaupt an den Ton und die Atmosphäre meiner frühen Kindheit in Budapest erinnern. Ja, auch nicht mit Budapest, nicht mit dem Budapest des Romans, sondern höchstens mit meiner eigenen, interiorisierten Stadt, wie ich sie überallhin mitnehme, nach Luzern, wo ich aufgewachsen bin, und dann hierher nach Rom. Nicht mit den beiden letzten Kapiteln des Buchs, obwohl ich die am liebsten übersetzt habe, weil sie die letzten waren, sicher, aber vor allem, weil mir die Art, wie da Menschen, Handlungen und die Natur verwoben sind, nahesteht und nahegeht. Aber nicht einmal das sollte mir nachgehen.

Ich musste mir mein Interesse für den Roman bewahren, Interesse im starken Sinn, des Dabeiseins, und das ging nur, wenn ich mich nicht von ihm besetzen ließ. Musste ihm ein möglichst intensives, von ihm unabhängiges Leben entgegenstellen, oder besser, mich von dem Intensiven, das auf mich zukam, einnehmen lassen. Und es kam seltsamerweise einiges auf mich zu. Vielleicht auch nicht seltsamerweise, vielleicht ist es so, wenn man sich über eine lange Zeit auf etwas konzentriert, dass ein Intensives das andere ruft. Oder vielleicht sind es spezifisch die Parallelgeschichten, die das tun, aus dem Leben gegriffen, wie sie sind. Auch das meine ich im im starken und eigentlichen Sinn des Ausdrucks. Sie sind wie ein Bündel organischer Fasern, das zwecks Beobachtung aus dem lebenden Gesamtgeflecht herausgehoben wird, ohne dieses zu zerreißen. Deshalb, nebenbei, kann es im Roman keine Enden, Abschlüsse geben.

Denke ich jetzt. Damals, bei der Arbeit, analysierte ich die einzelnen Faserzellen, um beim Bild zu bleiben, ich stellte keine Gesamtbetrachtungen an. Nádas zum Glück auch nicht. Ja, auch er, als er nach Rom kam, um mit mir zu arbeiten, ließ sich ablenken vom Text.  Und war selbst eine Ablenkung. Hielt am Strand von Ostia sein Handy in Richtung des Wassers, um seiner Frau im hintersten ungarischen Binnenland das Wellenrauschen zu übermitteln, wurde in der Frühlingssonne immer röter, aß mit Genuss gebratenen Fisch im Strandrestaurant und am Abend Coda alla Vaccinara in einem handfesten Lokal, betrachtete mit mir die Kameliensorten in der Villa Aldobrandi und verlor über sein Buch kein Wort. Ich war ihm dankbar dafür. Auch für seine Zurückhaltung während der Arbeit. Dass er zu mir kam, in zwei Frühlingen hintereinander, sich meine Fragen anhörte, ohne mir ein Autoren-Ego aufzudrängen,  während ich zuweilen meine Gereiztheit oder Anspannung, oder Gereiztheit vor Anspannung, nur mühsam beherrschte.

Unvermeidliche Gemütszustände, wenn man aus dem Ungarischen übersetzt. Zu viele der Orientierungspunkte, an die wir von den indoeuropäischen Sprachen oder zumindest vom Deutschen gewöhnt sind, fehlen. Das grammatische Geschlecht, das unbetonte Pronomen, die Zeitenfolge, weil es nur ein Tempus der Vergangenheit gibt, die Analytik. Das vor allem. Dass Aussage in Aussage hineingepfercht werden kann, weil es die Sprache in ihrer synthetischen Struktur erlaubt, die Bedeutung ballt sich in Partizipialkonstruktionen zusammen, aufs konjugierte Verb kann man unter Umständen lange warten, oder sie klebt mit den Affixen am Wort, und dazu kann das Wort an beliebiger Stelle im Satz stehen, stehenkann beliebigerstelle Satzim das Wort, um es gewissermaßen ungarisch zu sagen. Nádas schöpft aus dem Vollen, nützt diese Eigenheiten des Ungarischen sehr weitgehend aus. Schamlos aus, wie ich bei mir dachte, während ich ihm nervös auseinandersetzte, was im Deutschen möglich ist und was nicht. Was er, des Deutschen mächtig, auch selber wusste. Er spürte wohl, dass ich mit meiner Anspannung rang, und beantwortete ruhig meine Fragen: Wer spricht? Und wann? Ist es noch diese Geschichte oder eine Rückblende in die Zeit vor dem Krieg? Oder in einen Traum? Oder eine Vorblende? Wohin? Wohin? Bis ich sein Spiel mit dem Text, das Ineinander-Gleitenlassen der Textebenen, besser verstand.

Und mit der Zeit zu verstehen begann, dass es eine Rhythmusfrage war, ich musste mich dem Rhythmus des Originals überlassen und dann einen Rhythmus finden, der die analytische Struktur, die größere Explizitheit des Deutschen auffing und in Bewegung überführte.  Musste die Schwingung und die Atmosphäre finden, die der Autor mit seinem gleitenden Ungarisch locker hervorgerufen hatte, das plattfüssig Explikative vemeiden, aber auch in kein Pathos verfallen, die Sache unauffällig tun.

Es gelang mir nicht immer auf Anhieb, das richtig zu kalibrieren. Schwang ich zu weit aus, sagte es mir mein Lektor schon. Delf Schmidt und ich haben oft und gut über Formulierungen gestritten, er auf der Seite der künftigen Leserinnen und Leser, ich auf der Seite des Originals. Ohne seine Einwände, Vorschläge und Anregungen hätte ich mich, sagen wir es ehrlich, mehr als einmal verrannt, sie halfen mir an manchen Stellen, zu Lösungen zu finden, die am Ende texttreuer waren, als das, was ich zunächst grimmig verteidigt hatte.

Ob die Arbeit an den Parallelgeschichten meinen Charakter verbessert hat, steht dahin, aber vielleicht doch, es schadet ja nichts, sich seiner Rauheiten bewusst zu werden. Dass ich über den tausendsiebenhundert Seiten, die ich insgesamt siebenmal gelesen habe, leicht dyslexisch geworden bin, muss ich hinnehmen, dafür sitze ich in ungewohnt gerader Haltung auf einem Norwegerstuhl vor einem Computer, der hübsch anzusehen ist und nicht wie der Alte rattert, Anschaffungen, zu denen mich die jahrelange Arbeit zwang.

Sitze also in meinem Römer Arbeitszimmer, auf dem Tisch liegt das dicke, schwere Buch, aber die Tatsache, dass es fertig ist, löst bei mir nicht viele Gefühle aus. In dem jahrelangen Tanz um es herum, von ihm weg, auf es zu, habe ich meine diesbezüglichen Emotionen wohl zu einem großen Teil verbraucht. Ich weiß, dass ich froh und erleichtert bin, aber ich spüre es nicht. Vielleicht später einmal wird mich die Erleichterung einholen, so sehr, dass ich wieder in dem Buch lesen werde. Jetzt mag ich es nicht einmal öffnen, ja, denke mit leisem Grauen an das, was zwischen den Buchdeckeln geschieht. Ich meine nicht Gewalt und Verfolgung und Liebe und Tod, sondern die Eigendynamik des Texts. Bestimmt jede Übersetzerin, jeder Übersetzer macht die Erfahrung, dass sich der Text wie ein Lebewesen immer und immer wieder dem kontrollierenden Zugriff entzieht. Auch nachdem er gesetzt, gedruckt, gebunden ist, scheint er sich noch in alle Richtungen zu winden. Nein, das will ich nicht sehen.

Lieber schaue ich in die Frühlingssonne hinaus und erinnere mich, wie letztes Jahr um diese Zeit Ikuyo die Hand auf den Kopf meines schwarzen Hundes legte und dass mich das daran erinnerte, wie ein Jahr zuvor Nádas und der Hund in der hereinscheinenden Sonne nebeneinander auf dem Sofa gesessen hatten.  Ich habe sie fotografiert, Ikuyo mit dem Hund, Nádas mit dem Hund. Damals war das Ablenkung. Heute illustriert es die Parallelgeschichten, meinen persönlichen vierten Band.