100 Jahre Insel-Bücherei

"Weltgeist in der Westentasche"

18. März 2012
von Börsenblatt
Rilkes "Cornet" eröffnete 1912 die Insel-Bücherei. In der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig feierte der Insel Verlag den 100. Geburtstag seiner erfolgreichsten Reihe – unter den Gratulanten war auch der bekennende Insulaner Uwe Tellkamp.

"Autor biste?" musste sich der Stud. med. Uwe Tellkamp Anfang der 90er in bohemistischen Leipziger Kaffeehaus-Lesezirkeln misstrauisch fragen lassen. "Haste ein Buch bei Insel?" Inzwischen ist dieser Tellkamp kein ganz Unbekannter mehr, und auch mit der letztgültigen Nobilitierung zum Dichter hat es geklappt; sein Langgedicht "Reise zur blauen Stadt" liegt als Insel-Bändchen Nummer 1323 vor, selbstverständlich fadengeheftet, auf alterungsbeständigem Papier gedruckt und in feines gemustertes Überzugspapier gebunden.

Als Insel am Freitagabend im bis zum letzten Notsitz gefüllten Lesesaal der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig den 100. Geburtstag seiner erfolgreichsten und vielseitigsten Reihe feierte, las Tellkamp nicht nur aus diesem Band – er berichtete mitreißend von seiner Insel-Initiation. Vom Musiker-Onkel gab’s noch zu DDR-Zeiten die berühmte Nummer 1, Rilkes "Cornet", natürlich nicht in der ersten, rasch vergriffenen Auflage von 1912. Ein Exemplar in Fichte-Fraktur, gedruckt bei Spamer in Leipzig. Der "Weltgeist in der Westentasche", ein "Lese- und Kulturerlebnis", das Tellkamp nicht wieder loslassen sollte: "Es öffneten sich Türen in Träume, die man sich nicht zu träumen wagte."

Die Gründung der Insel-Bücherei durch Anton Kippenberg 1912, angezeigt auf Seite 1 des "Börsenblatts" vom 23. Mai, war der Auftakt einer sagenhaften Erfolgsgeschichte: 1.672 Titel listet die eben erschienene Bibliographie auf; bis heute hat der Verlag sie ununterbrochen weitergeführt, in Leipzig, Frankfurt und Berlin, in einem Deutschland, das zwei Weltkriege erlebt und über 40 Jahre Teilung erlitten hat. Woher rührt dieser Erfolg? Welchen Bedürfnissen kommt die Insel-Bücherei entgegen? Raimund Fellinger näherte sich solchen Fragen mit Blick auf Zeiten der "Krise". Wie bitte? Auch die gab’s, kaum zu glauben: Anfang der 60er, als die Insel-Bücherei West unter anderem durch das Taschenbuch an den Rand gedrängt wurde. Es war Hans Magnus Enzensberger, der sie ein "halbherziges Unternehmen" nannte, das künftig nur dann eine Chance haben würde, wenn sie zwei Merkmale ausspielte: Das Neue im Alten, das Alte im Neuen zeigen – sowie Text und Bild vereinen.

Lange rang die Insel-Bücherei in der Bundesrepublik ums Überleben; gesichert war sie, so Fellinger, erst mit dem Wandel zum "coffeetable-book avant la lettre". Am Ende war Kippenbergs Konzept flexibel genug, um die Reihe unterschiedlichsten politischen und kulturellen Rahmenbedingungen anpassen zu können. Die Leipziger Insel-Bücherei, bei der die Zahl der Bestellungen die Auflagen zwischen 10.000 und 20.000 weit überstieg, kannte eh keine Absatzprobleme. Die Insel-Fans, die ihre Schätze wie die Blaue Mauritius hüten und jede Doppelbelegung, jede angekündigte, aber nicht realisierte Fassung vermutlich im Schlaf hersagen können, hörten es mit leuchtenden Augen. Geschätzt 60 Millionen Exemplare gelangten seit 1912 in die Hände von Lesern, Käufern, Sammlern. Glückwunsch!