Leselust aus der Reihe "Schöner Lesen"

Die Metamorphosen einer Mortadella

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Der Beweis, dass Papier zu allem werden kann. Auch zu Wurst. Ein Beitrag von Judith Schalansky.

Vom innigen Verhältnis des Menschen zur Wurst zeugen allerlei Sprichwörter. Ob es nun um die Wurst geht, ihre zwei Enden oder die Wurstigkeit als Ausdruck totalen Desinteresses. Man sollte also auf einiges gefasst sein, wenn auf dem packpapierfarbenen Cover eines DIN-A4-Buchs eine Wurstspezialität aus der Provinz Bologna in großen Lettern angekündigt wird: "Mortadella" steht da – zentriert und schwarz glänzend, in einfachen, englischen Anführungen, als handele es sich um den Künstlernamen einer Zirkusartistin.

Wer jedoch den Deckel der Broschur öffnet, erlebt den spektakulären Auftritt eines Aufschnitts. Was wir nach Titelei und durchscheinender Pergamynseite zu sehen bekommen, ist das Innenleben einer Mortadellawurst, vom einen Zipfel bis zum anderen, 166 Scheiben, jede von beiden Seiten, wahrheitsgetreu und lebensgroß. Das Papier wird zum Wurstträger. Die 332 Mortadellabilder hat der Künstler Christoph Hänsli in monatelanger Arbeit in Acryl und Öl gemalt: Ein Mammutprojekt, das in dem von Cornel Windlin und Nazareno Crea gestalteten Buch seine maßlose Schönheit und suggestive Sinnlichkeit entfaltet. Die Mortadella offenbart sich darin als Mutter der Gesichtswurst. Das gemahlene, gegorene Schweinefleisch wird zum delikaten Inkarnat, die weißen Speckräume zu fahlen Hautflecken und die dramatisch auf- und wieder abtauchenden Pfefferkörner zu flüchtigen Schönheitsflecken.

Man blättert, staunt und möchte applaudieren, wenn sich hinter dem letzten Wurstzipfel die Doppelseite zu einem Panorama der Mortadella-Metamorphosen ausfalten lässt. Und man kann Kunstkritiker John Berger nur beipflichten, wenn er Hänslis Arbeit als eine Schule des Sehens preist. Wer zur Tiefe dringen will, muss sie in der Oberfläche suchen. Dieses Buch beweist, dass sich das Weltgeheimnis nur in der Wiederholung und in der Wurst offenbaren kann. Am Ende erfahren wir, wem wir dieses Glück zu verdanken haben: Die Buchrückseite ziert ein kleines, schwarzes Schwein. Damit wären wir nun bei einem anderen Sprichwort angelangt.

Judith Schalansky, 1980 geboren, schreibt und gestaltet Bücher. Zuletzt von ihr erschienen: "Der Hals der Giraffe" (Suhrkamp, 2011) und "Der Atlas der abgelegenen Inseln" (Mare, 2009).