Friedenspreis

Die gefährliche Geschichtsvergessenheit Europas

26. Februar 2015
von Börsenblatt
Boualem Sansal zu Gast in Brüssel: Der algerische Schriftsteller diskutierte am Dienstag mit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz über den arabischen Frühling. Eindrücke.

In der Europäischen Hauptstadt ein Gespräch über "Europa und den arabischen Frühling" zu führen – wer könnte das wohl besser als der algerische Schriftsteller Boualem Sansal, 2011 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Schließlich hatte er bei der Friedenspreisverleihung im vergangenen Oktober eine Verbindung hergestellt zwischen dem Arabischen Frühling und der Wende in Europa nach dem Fall der Mauer: "Alle Mauern werden fallen", kündigte er damals in der Paulskirche an.
 
Sein Dialogpartner im Brüsseler "Bozar", dem Palais der schönen Künste, war am Dienstag Martin Schulz, der deutsche Präsident des Europäischen Parlaments, ehemaliger Buchhändler und dem Friedenspreis damit persönlich verbunden. Mit Veranstaltungen wie diesen will der Börsenverein der Auszeichnung international Wirkung verschaffen. Das machte Hauptgeschäftsführer Alexander Skipis bei der Begrüßung deutlich. Kooperationspartner waren, neben dem "Bozar", der Deutschlandfunk und das Goethe-Institut. Die Diskussion stand unter der kundigen Leitung von Stephan Dethjen (Deutschlandfunk).

Für Martin Schulz gibt es in Europa Länder, die in einer ähnlichen Lage sind wie heute Sansals Heimat Algerien. Europa laufe Gefahr, in der eigenen Geschichte gefangen zu sein. Gefährlich sei auch die zu beobachtende "Geschichtsvergessenheit" gegenüber dem "Faszinosum der europäischen Integration".  Der Frieden sei nicht mehr ein "Wert an sich". Die größte historische Leistung des vergangenen Jahrhunderts, die Überwindung von Rassismus, Intoleranz, Mordlust und Destruktivität. werde täglich herabgewürdigt.  "Unter dem Druck ökonomischer und politischer Fehlentwicklungen treten wir Europa mit Füßen".

Sansal selbst ist seit der Verleihung des Friedenspreises im Herbst 2011 viel auf Reisen. Er lerne, was es heißt, Friedenspreisträger zu sein, sagt er selbst. Eine Reise nach Israel hat ihm Kritik, Ärger und auch Drohungen eingebracht. Aber: "Wie will man beispielsweise den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten stoppen, wenn man nicht mit Israelis spricht?", fragt er sich.

Sein erstes Manuskript landete vor Jahren auf dem Schreibtisch von Jean-Marie La Claventine (Verlag Gallimard). Er hat den Autor "entdeckt". Die Lektüre des Manuskripts beschrieb er auf dem Brüsseler Podium als "Moment des Enthusiasmus".

Von Sansal erscheint demnächst ein weiteres Werk auf Deutsch. "4001 Jahre der Nostalgie - Auch eine Philosophie der Geschichte des Maghreb" (Berlin University Press). Nachdem er in Brüssel Auszüge daraus gelesen hatte, betonte Sansal, dass in Algerien und anderen Ländern Nordafrikas der Zugang zur eigenen Geschichte versperrt sei, weil die Archive in anderen Ländern lagern würden.

 

Eine eigene Identität gebe es in Algerien noch nicht. Und es seien wohl Jahrzehnte notwendig, bis sich eine algerischen Identität aus arabischen, berberischen und westlichen Werten und Einflüssen herausbilden könne, meint Sansal. Die Gegenposition heiße deshalb für viele: "Wir sind alle Araber, alle Moslems". Begonnen habe sie mit der Forderung nach einem "reinen" Islam, danach, ein "guter Moslem zu sein". Das Ergebnis sei Kontrolle in der Öffentlichkeit und bis in die Familien hinein, unter Anwendung von Gewalt.

Der "Todesmagie" des Islamismus stehe die Gesellschaft ohnmächtig gegenüber, so Sansal, der "Instrumente der Wachsamkeit" vermisst. Der Arabische Frühling habe begonnen mit Jugendlichen in Tunesien, die für Beschäftigung und gegen Korruption demonstrierten. Jetzt gebe es Demonstrationen mit anderer Zielrichtung, etwa gegen die Rechte der Frauen und für Zensur.

Als Präsident der Parlamentarischen Institution der Mittelmeer-Union war Martin Schulz den Entwicklungen sehr nah. Er war selbst auf dem Tahir-Platz in Kairo und spürte die Dynamik der Macht von Zigtausend Menschen. Beim "Arabischen Frühling" handelt es sich für ihn um einen Aufbruch zu einem Ziel, das noch nicht bestimmt ist.

"Wir Europäer brauchen diejenigen als Partner, die als Moslems Demokratie wollen", so der Parlamentspräsident. Tragisch findet er, dass sich europäische Außenminister die Klinke in die Hand gaben und vor Ort die Revolution begrüßten, während gleichzeitig finanzielle Hilfen gekürzt würden.

Schulz erinnerte an Deutschland und den Wendepunkt 1945. Waren die Deutschen Demokraten nach dem "Dritten Reich" und der kurzlebigen Weimarer Republik? Konrad Adenauer habe mit Hilfe der USA (Marshall-Plan) und der Europäer Demokratie und wirtschaftlichen Aufschwung verbunden. Dasselbe brauche nun Nordafrika.