Olga Martynova im Interview

"Literatur ist dazu da, das Gedächtnis zu sensibilisieren"

6. Juli 2015
von Börsenblatt
Bachmann-Preisträgerin Olga Martynova über den Wettbewerb in Klagenfurt, ihren Siegertext und die Vorzüge der Leichtigkeit.

Sie haben sehr konzentriert alle Lesungen und Diskussionen verfolgt. Das Ganze ist ein Wettbewerb. Kann man sich da über den gelungenen Text eines anderen freuen?
Martynova: Ich habe die anderen keine Sekunde als Konkurrenten betrachtet. Als Autor freut man sich immer über gelungene Texte. Andererseits bewundere ich die Gedankenblitze der Juroren. Die Jury war oft sehr witzig, nur einige Male hatte ich Sorge, dass es zu verletzend gewesen sein könnte.

Was hat Sie als etablierte, mit Preisen bedachte Autorin dazu gebracht, sich dieser Konkurrenzsituation auszusetzen?
Martynova: Ich war neugierig. Ich glaube, Neugier ist wichtig für einen Autor. Aber das heißt natürlich nicht, dass ein Schriftsteller spektakuläre Dinge erleben muss. Ich wollte die Lesungen auf mich wirken lassen und diese Erfahrung auch selbst machen.

Jeder Auftritt vor der Klagenfurter Jury ist mit einem Risiko verbunden. Hat Sie das nicht beunruhigt?
Martynova: Mein Lektor, der sehr freundlich ist, hat mich gewarnt. Er sagte: »Weißt du, dass das sehr verlet­- zend sein kann.« Nun, ich glaube, dass ich ziemlich resistent bin. Aber die Vermutung blieb ungeprüft: Die Juroren waren meinem Text gegenüber sehr freundlich.

Sie sind in der Sowjetunion aufgewachsen und leben jetzt in Deutschland. Was bedeutet das für Ihr Schreiben?
Martynova: Ich fühle mich in zwei Welten zu Hause. Es ist ein Geschenk, die Möglichkeit zu haben, die Welt von zwei Seiten anzuschauen.

Betrachten Sie es auch als Vorteil, in zwei Sprachen beheimatet zu sein?
Martynova: Ja. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass man in beiden Sprachen aktiv bleibt. Ich lebe in Deutschland, doch zu Hause in Frankfurt am Main umgibt mich und meinen Mann, Oleg Jurjew, eine kleine russische Bibliothek. Meine Alltagssprache ist Deutsch, aber jeden Tag lese ich russische Texte. Und ich bin und bleibe eine russische Lyrikerin.

Gedichte schreiben Sie auf Russisch, Prosa auf Deutsch. Wie ist diese Trennung zustande gekommen?
Martynova: Ich habe auf diese Frage schon sehr unterschiedliche Antworten gegeben. Aber ich denke immer wieder neu darüber nach, es ist tatsächlich nicht so einfach. Meine Antwort jetzt: Mir geht es darum, Lyrik und Prosa auseinanderzuhalten. Das gelingt mir besser, wenn ich mich beider Sprachen bediene. Ich hasse es, wenn es in einer Kritik heißt: Das ist die Prosa eines Lyrikers.

Es ist oft ein Kompliment.
Martynova: Ja, man meint es oft positiv. Aber wenn ich Prosa schreibe, will ich auch eine andere Sprache dafür finden.

Ihr Roman »Sogar Papageien überleben uns« ist ein großes Mosaik und darin dem Text, den Sie in Klagenfurt gelesen haben, nicht unähnlich. Ist das ein Formprinzip, das Sie besonders schätzen?
Martynova: Ja, diesmal sind nur die Bauelemente größer geworden. Ich versuche, jedes Kapitel so zu schreiben, dass es eine abgeschlossene Geschichte ergibt, die für sich stehen kann und die Nachbargeschichten nicht braucht. Aber tatsächlich sind die einzelnen Episoden miteinander verbunden. Vor dem Beginn des Schreibens habe ich ein Mosaikbild im Kopf, mir ist noch nicht jedes Steinchen bekannt, aber sobald eines auftaucht, weiß ich, wohin damit.

Es gibt eine Reihe wunderbarer Einfälle: Da ist zum Beispiel der Chef mit fünf Sekretärinnen, für jeden Tag eine, oder die anders erzählte Geschichte von Adam und Eva. Wie finden Sie Ihre Steinchen?
Martynova: Ich glaube nicht, dass ein Autor diese Frage beantworten kann. Wenn man schreibt, hofft man auf solche Einfälle. Und ich bin jedes Mal sehr glücklich, wenn sie sich einstellen. Was wir geschenkt bekommen – das ist die eine Frage; die andere: was wir daraus machen. Die eigentliche Arbeit beginnt, wenn das Geschenk da ist.

»Man geht in dem geschilderten Städtchen sehr gern spazieren«, sagte Hubert Winkels bei der Jurydiskussion. Das ist eine treffliche Beschreibung für eine schöne Leichtigkeit und Beschwingtheit, die Ihren Text durchziehen.
Martynova: Ich schreibe oft über unerfreuliche Dinge, aber ich möchte das nicht noch betonen. Literatur ist dazu da, das Gedächtnis zu sensibilisieren. Und wenn man Vergangenheit anders erzählt, wird sie vielleicht auch anders lebendig. Leser sagen dann eher nicht, das haben wir schon tausendmal gehört.

Ihr Text »Ich werde sagen ›Hi!‹« erzählt von einem Jungen, Moritz, der erste Schreibversuche macht, möglicherweise Schriftsteller wird. Ist das auch ein Stück Selbstporträt?
Martynova: Nein, aber es gibt in dem Roman »Mörikes Schlüsselbein«, aus dem der Text stammt – er steht dort etwa in der Mitte –, zwei Haupt­figuren, die beide Schriftsteller sind. Meine schriftstellerische Empathie ist immer dann am ausgeprägtesten, wenn diese beiden auftreten. Moritz war am Anfang nur eine Nebenfigur, allmählich wurde er immer wichtiger.

Was hat es mit dem Romantitel auf sich?
Martynova: Es geht in dem Buch um die deutsche Romantik und in einem Kapitel auch explizit um Mörikes Schlüsselbein.

Nach welchen Kriterien haben Sie den Text, den Sie in Klagenfurt vorgetragen haben, ausgewählt?
Martynova: Ich habe einfach geschaut, welches Kapitel die richtige Länge hat, die Stoppuhr war entscheidend. Die Kapitel sind sehr verschieden, aber sie gehören alle zu mir. Ich kann nicht sagen, dieses liebe ich mehr als jenes. Es ist unmöglich vorherzusagen, welcher Text die größten Erfolgsaussichten beim Bachmann-Wettbewerb hat. Das ist wie im Spielcasino, da weiß man auch nicht, ob man auf Rot oder Schwarz setzen soll.