Glosse

"Haben Sie nachts Wadenkrämpfe?"

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Börsenblatt-Redaktionsvolontär Kai Mühleck im Selbstversuch: face reader Eric Standop liest auf der Frankfurter Buchmesse am Stand des Schirner Verlags aus Gesichtern.

Assistentinnen oder eine Kristallkugel braucht er nicht: Eric Standop ist professioneller Gesichtsleser. Auf seiner Visitienkarte steht face reader. Klingt gleich noch einmal so cool. Für ihn spielt wohl keine Rolle, wie frisch das Gesicht ist, das ihm gegenüber Platz nimmt, aber zum Zahnarzt geht man ja auch mit geputzen Zähnen, sage ich mir. Zum Glück ist erst Messe-Mittwoch. Die Gesichter in der Schlange hinter mir sehen noch halbwegs unzerknautscht aus. Ich hoffe, das gilt auch für mich.

"Haben Sie nachts Wadenkrämpfe?" Ein unerwarteter Gesprächsbeginn, ich bin überrascht. Dabei hatte ich mir vorgenommen, mich nicht überrumpeln zu lassen. Standops Augen zucken von links nach rechts und wieder zurück, auf der Suche nach Hinweisen, die etwas über meine Gesundheit, meinen Charakter und mein Schicksal verraten sollen. Jetzt, da er mich als Nicht-Krampfer identifiziert hat, kann er gleich zur Sache kommen: "Sie haben eine tiefe emotionale Verletzung erlitten." Wer bitte nicht? So leicht mache ich es ihm nicht. Aber schon hat er mich wieder an der Angel: "Sie haben einen Langmagen. Die Nahrung bleibt bei Ihnen unten, die Folge sind gelegentliche Magenschmerzen." Schon will ich protestieren. Meinem Magen geht's eigentlich gut. Oder nicht? Ich überlege ohne Ergebnis. Hat er nichts Nettes zu sagen? Ich brauche ihn aber gar nicht bitten. Denn schon liest er mir meinen Wunsch von den Augen ab und flötet: "Sie sind tiefschürfend, kreativ und neugierig." Na bitte. Das geht doch runter wie Öl. Und hinter mir stehen ein paar hübsche Damen in der Warteschlange, die hören mit.

"Sie brauchen die Diskussion. Der harmoniesüchtige Typ sind Sie nicht." Standop erhebt sich ein wenig aus dem Stuhl um mein Profil zu betrachten. Schaut er gerade auf meine Ohren? "Sie müssen es nicht jedem recht machen und kuschen nicht." Ich und streitsüchtig?! Gerade will ich ihn ordentlich anblaffen, da setzt er mich mit meinen Fingerspitzen Schachmatt: "Sie haben ganz klar einen Mineralstoffmangel. Kauen Sie viel Kaugummi?" – Nein. "Trinken Sie Cola light?" – Nie. "Wie sieht es mit Koffein aus?" Es ist 11 Uhr und ich hatte erst vier Tassen Kaffee. "In Maßen", lüge ich also, um ihn zu verwirren. "Ich bin auf der Suche nach dem Stoff Aspatam", sagt er beiläufig. Ich verstehe nur Bahnhof. Ob das gut oder schlecht sei, will ich wissen. "Schlecht." Verdammt.

"Lächeln Sie mal, kurz?", jetzt kommt mein Gebiss an die Reihe. "Ja, die Mineralstoffe. Aber einen Eisenmangel sehe ich nicht." Gott sei Dank, ich bin gerettet. Das glaube ich zumindest kurz, bis er verkündet: "Ihre zweite Lebenshälfte wird schöner als die erste." Na, na, na, denke ich. Mit meinem Volontariat bin ich zumindest sehr zufrieden. Während ich noch nachsinne, ob Standop gerade mein Leben schlechtredet, fährt er bereits fort. "Herz und Verstand gehen bei Ihnen zusammen", besänftigt er mich und fordert mich höflich auf, mal ordentlich die Stirn zu runzeln. "Ihre kreative Stirnfalte ist dominant."

Er lächelt, jetzt sieht er ganz zufrieden aus. So groß kann der Schaden ja nicht sein, hoffe ich. "Sie sind ein spiritueller, kreativer Mensch. Feinfühlig." Er wendet jetzt die chinesische Methode an, sagt er. Die stehe nicht in seinem Buch "Gesichtlesen". Ich nicke, als würde ich verstehen, was keineswegs der Fall ist. "Sie haben eine Gemeinsamkeit mit Obama und Mahatma Gandhi. Sie wollen die Welt besser machen, aber Sie suchen die Reibung. Die brauchen Sie." Obama oder Gandhi, wer wäre mir lieber? "In ihrem Arbeitsumfeld haben Sie überhaupt keine Probleme. Sie sind zuverlässig und ein Stress-Arbeiter. Sie lassen ungern etwas liegen." Das schmiere ich gleich meinen Kollegen aufs Brot, grinse ich in mich herein. "Emotional müssen Sie sich aber durchbeißen." Der face reader hat genug gelesen. Er reißt sich regelrecht los, die Schlange hinter mir ist mittlerweile wirklich lang, die zwei Minuten längst überschritten. Die Menschen machen Fotos. Auch die "FAZ" ist neugierig geworden. "Normalerweise dauert das eine oder zwei Stunden", sagt Eric Standop und rät mir geradezu verschwörerisch: "Sie geben zuviel." Dann gibt er mir aber etwas: Seine Hand und dann noch seine Visitenkarte. Und da fällt mir etwas ein: Eric Standop sieht aus, wie ein netter Barista. Oder ein Webprogrammierer, aber ein freundlicher, der freundlichste, den man sich vorstellen kann.

Termine: Täglich auf der Buchmesse liest Eric Standop in Halle 3.1 D137 am Schirner Stand von 11 Uhr bis 11.30 aus Gesichtern.