Interview mit Filmemacher Ang Lee

"In der Literatur finde ich oft die besten Stoffe"

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Der Filmemacher und Drehbuchautor Ang Lee gewann 2005 für die Adaption der Geschichte “Brokeback Mountain” von Annie Proulx den Oscar als bester Regisseur. Ang Lee verfilmte u.a.  „Sinn und Sinnlichkeit“ von Jane Austen, „Gefahr und Begierde“ von Eileen Chang oder „Der Eissturm“ von Rick Moody. Am 26. Dezember startet sein 3D-Film „Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger“ nach dem Roman von Yann Martel.

Welche Rolle spielen Bücher in Ihrem Leben?
Ich bin als Tagträumer aufgewachsen, war schlecht in der Schule und bin durch mehrere Examen gefallen, obwohl mein Vater Lehrer war. Dafür habe ich mich geschämt. Mit 18 Jahren stand ich dann zum ersten Mal auf der Bühne. Zunächst dachte ich an eine Zukunft als Schauspieler. Ich las sehr viele Bücher. In meinem Kopf spielten sich ständig Film- und Theaterszenen ab. Nach zwei Studiengängen wurde ich schließlich Regisseur, weil ich merkte, dass ich das besser konnte, als vor der Kamera zu stehen. Zwischen den Dreharbeiten lese ich immer noch mit Leidenschaft. In der Literatur finde ich oft die besten Stoffe.

Was hat Sie motiviert, „Life of Pi“ zu drehen?
Das Buch habe ich bei Erscheinen vor zehn Jahren gelesen und hielt es zunächst nicht für einen Filmstoff. Aber der Roman regte schon damals meine Fantasie an. Die Erzählform fordert die Vorstellungskraft der Leser heraus. Eine der Fragen im Roman lautet: Wie sehr können wir Ereignissen glauben, für die es keine Beweise gibt. Und weil es meine Aufgabe ist, Bilder im Kopf und auf der Leinwand herzustellen, wollte ich herausfinden, wie man „Life of Pi“ filmisch umsetzen könnte. Die Schwierigkeiten waren vielfältig. Wie verbindet man im Drehbuch die verschiedenen Rahmenhandlungen, die Ich-Form und auktoriales erzählen? Wie zeigt man das Zusammenleben von Pi mit dem Tiger auf dem kleinen Rettungsboot? Da kam zum Glück 3D: Ohne die neue Technik hätte ich die Adaption nicht gewagt.

Wann nahmen Ihre Pläne für „Life of Pi“ konkret Gestalt an?
Vor viereinhalb Jahren wurde ich von „Fox 2000 Pictures“ angefragt. Damals steckte 3D noch in den Kinderschuhen. Aber die Möglichkeiten, die Illusion von Tiefe auf der Leinwand zu erzeugen, faszinierten mich zunehmend. Es bedurfte dieser Koinzidenz, hier das Filmprojekt, da die neue Technik.

Warum verwirklichen Sie immer wieder literarische Fiktionen im Kino?
Weil das Leben allein keinen Sinn ergibt (lacht). Es gibt viele Gründe: dank der Illusion auf der Leinwand, kann das Leben eine Struktur bekommen, die sonst vielleicht fehlen würde. Wünsche gehen im Kino in Erfüllung. Und weil es so viele Dinge im Leben gibt, die Rätselhaft bleiben, brauchen wir Imagination. Die Essenz des Lebens scheint mir das Unerklärliche zu sein. Wir müssen irgendwie sinnvoll damit umgehen. Die Natur hat ein Geheimnis, das wir Gott nennen. Das muss nicht religiös gedacht sein. Schon in unsrem Inneren beginnt das Unbekannte. Das kann ein Tiger sein. Außerhalb und innerhalb der Menschen befinden sich Mysterien. Manche Menschen wollen sie verdrängen oder zähmen, andere leben sie aus, wieder andere versuchen sie zu kategorisieren und zu definieren. Aber letztlich kommen wir nicht umhin, uns damit zu beschäftigen.

Am Ende der Geschichte ist Pi in der Klinik und erzählt sowohl im Roman als auch im Film eine andere Variante der Ereignisse ohne Tiere. Welche Fassung bevorzugen Sie?
Ich werde Ihnen nicht sagen, welche ich bevorzuge. Die eine Fassung dauert im Film 70 Minuten, die andere fünf. Würde ich es Ihnen verraten, dann meint das Publikum vielleicht, meine Aussage sei eine Grundlage oder Voraussetzung, um den Film richtig zu verstehen. Das wäre geradezu kriminell. Die Geschichte gehört den Zuschauern. Es wäre nicht fair, würde ich sagen, was die eine und was die andere Version bedeutet.

Welche Fassung schien Ihnen als Romanleser glaubwürdiger?
Ich kann nur für mich persönlich als Regisseur sprechen, der viele Jahre mit diesem Stoff gerungen hat. Beide Fassungen müssen sich am Ende zu einem glaubhaften Schluss fügen. Als Filmemacher wollte ich beide Geschichten nicht nur realistisch erzählen, sondern auch emotional. Am Ende beider Versionen sind Pi, seine Zuhörer und Zuschauer von den Ereignissen überwältigt. Cineastisch habe ich beide Fassungen gleich behandelt, um das Publikum zu überzeugen und gleichzeitig zu verwirren. Aber letztlich wird der Kinobesucher das Geschehen immer auf seine Art beurteilen. Als ich den Roman zum ersten Mal gelesen hatte, beschloss ich, keine der beiden Versionen ganz zu glauben. Ich dachte, dass beide Teilwahrheiten enthielten. Die zweite war leichter beweisbar und Pi schien sie einfach loswerden zu wollen, weil ihm die beiden Fragesteller aus Japan lästig waren. Es ist eine schlimme und böse Geschichte und man hat den Eindruck, dass Pi sie erzählt, um der ganzen Sache ein Ende zu machen. Diese Erzähl-Motivation Pi’s macht sie wiederum zweifelhaft, weshalb ich beschloss, ihr nicht ganz zu trauen. In der ersten Fassung gibt es viele glaubhafte Momente, aber auch viele fantastische, weshalb sie letztlich unwahrscheinlicher erscheint als die zweite. Zu Beginn des Kapitels, worin das Leben auf der Insel beschrieben wird, legte ich das Buch weg und rührte es wochenlang nicht mehr an. Das war mein Lektüre-Erlebnis.

War die Realitätsnähe bei den Dreharbeiten ein Thema?
Als Regisseur musste ich beide Versionen glaubhaft erzählen. Beim Drehen bestand aber die Frage nach einem mehr oder weniger realistischen Plot nicht. Was die Vorliebe für die eine oder andere Fassung betrifft, hatte ich ein interessantes Gespräch mit dem 17-jährigen Pi Patel Darsteller Suraj Sharma. Am Ende sagte er mir, dass er die zweite Geschichte weniger irritierend finde, sie sei zwar furchtbar, aber dafür glaubhaft. Nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht hatten, ist das für mich eine wichtige Aussage.

Wie sind die Reaktionen bisher auf die komplexe Erzählstruktur?
Ich bin auf Gegensätze zwischen Ost und West gestoßen: In den USA bevorzugt man stark die abenteuerliche Fassung. Das ist zwar eine phantastische Geschichte, aber sie hat ein glückliches Ende und das wird geschätzt. In Asien hingegen ist es genau umgekehrt. Dort betrachtet man viel stärker als in den USA die erste und lange Version der Ereignisse von der kurzen zweiten Fassung her. Man beschäftigt sich mit der Frage, wie Pi mit sich selbst umgeht. Das Ende ist sehr irritierend und sehr traurig und sie lieben es genau aus diesem Grund. Wir Asiaten haben scheinbar einen Hang zum Tragischen (lächelt). Die Asiaten betrachten den Film insgesamt als Darstellung eines Reifungsprozesses, der Verlust von Unschuld, des Umgangs mit der Realität, mit Richard Parker, also dem Tiger in uns. Die Asiaten sehen den Tiger als Symbol für den Überlebenswillen in Pi. Ich weiß nicht warum, aber sie konzentrieren sich mehr auf die existentiellen Fragen und auf die Religion und die Kultur. Und sie stellen auch psychologische Fragen, was der Tiger für Pi und für mich bedeutet, ob er eine Vaterrolle einnimmt.

Gab es die Überlegungen, den Film mit der ersten großen Abenteuergeschichte enden zu lassen?

Ich kann mir schon vorstellen, dass die Produktionsfirma diesen Wunsch hatte. Aber ich bekam den Auftrag, das Buch zu verfilmen, also mussten sie damit rechnen, dass ich den Schluss nicht weglassen würde. Es gab dann Fragen, warum am Ende so viel geweint wird und ob es nicht friedlicher ausgehen könnte. Aber ich glaube, dass man diesen wesentlichen Aspekt des Buches nicht ändern darf, um eine Teenager-Abenteuergeschichte daraus zu machen. Das wäre eine Schande gewesen.

Hintergrund: In Zusammenarbeit mit der deutschen Niederlassung des neuen seitenreich-Kooperationspartners 20th Century Fox präsentiert der Börsenverein rund um die Literaturverfilmung des Bestsellers ein einmaliges Angebot: In acht deutschen Städten konnten Buchhändler, die Mitglied im Börsenverein sind, exklusiv drei Wochen vor dem offiziellen Filmstart die Preview erleben – und ihre Kunden dazu einladen.