VdÜ befürwortet Internationalität des Deutschen Jugendliteraturpreises

"Ein fatales Signal"

6. Juli 2015
von Börsenblatt
Der Verband der deutschsprachigen Literaturübersetzer (VdÜ) will die internationale Ausrichtung des Deutschen Jugendliteraturpreises bewahren. "Eine nationale Beschränkung des Deutschen Jugendliteraturpreises wäre ein unzeitgemäßes und fatales Signal", sagte der VdÜ-Vorsitzende Hinrich Schmidt-Henkel.

Stellungnahme des VdÜ:

"Es ist gut und wichtig, dass der Deutsche Jugendliteraturpreis die gesamte Breite der bei uns erscheinenden Kinder- und Jugendliteratur erfasst, Originale wie Übersetzungen ins Deutsche" so Schmidt-Henkel. "Eine nationale Beschränkung des Deutschen Jugendliteraturpreises wäre ein unzeitgemäßes und fatales Signal. Die Einrichtung einer Preissparte für Übersetzungen würde das nicht ausgleichen."

Übersetzerin und Autorin Heike Brandt hat eine Antwort auf den Offenen Brief verfasst, der sich der VdÜ-Vorstand angeschlossen hat:

"Die InitiatorInnen und Unterzeichnenden des Offenen Briefes haben für meine Begriffe bei ihrer Klage deutlich zu kurz gedacht. Denn die beklagte mangelnde Aufmerksamkeit liegt vor allem daran, dass in Deutschland Jahr für Jahr immer mehr Bücher für Kinder- und Jugendliche produziert und verkauft werden (2012 mehr als 8000 Titel) – das Angebot ist gewaltig und unüberschaubar, es wird eine Fülle von Büchern für Kinder und Jugendliche auf den Markt geworfen, die mit Literatur wenig zu tun haben und für den DJLP überhaupt nicht in Frage kommen, aber gute Umsätze und damit Geld in die Kassen bringen – nur nicht in die aller an dem Geschäft Beteiligten. Das ist sicherlich ein Problem – aber wie sollte ein Staatspreis das lösen?

Ein Grund für diese Massenproduktion ist der „Pisa-Schock“ – seit den Veröffentlichungen der Daten über unzulängliche Leseleistungen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland ist Leseförderung ein großes Thema, dafür wird viel getan, werden viele staatliche und private (Stiftungs-) Gelder ausgegeben, werden Programme entwickelt, jede Menge Bücher mit dem Etikett Leseförderung auf den Markt geworfen. Lesen an sich wird zur Qualität erklärt, um die Frage, was Kindern eigentlich vermittelt wird bzw. werden könnte/sollte, geht es dabei leider höchst selten.

An der massenhaften Produktion von Kinder- und Jugendbüchern sind aber nicht nur die Verlage beteiligt, sondern u.a. auch die deutschsprachigen AutorInnen, die den Verlagen für diesen Massenmarkt zuarbeiten, die sich aus „Marketinggründen“ zu einem englischen Pseudonym oder zu Auftragsarbeiten für Serien, „Lesefutter“, Erstlesetexte, Jungs- und Mädchenbüchern (wie in den fünfziger Jahren) etc. gezwungen fühlen und genau damit zu der beklagten Fülle beitragen, die der Literatur keine Chance lässt, weder bei den BuchhändlerInnen noch bei den KäuferInnen – sie finden sie einfach nicht. Natürlich sind an diesem Prozess ÜbersetzerInnen gleichermaßen beteiligt.

Es geht also letztlich um den Konflikt zwischen Kommerz und Kultur, wobei es überhaupt nicht darauf ankommt, ob ein Buch übersetzt wurde oder original deutschsprachig ist. Dass Verlage lieber auf bereits „fertige“, auf dem Markt bewährte, von der Kritik abgesegnete Titel zurückgreifen, liegt nicht an der Ausrichtung des DJLP, sondern an der Marktorientierung der Verlage. Nicht umsonst gibt es die sogenannte „Mischkalkulation“ – schwierig verkäufliche (also eher „anspruchsvolle“) Titel (egal, ob übersetzt oder nicht) sollen von marktgängiger Massenware getragen werden. Was ja eigentlich heißt, jede AutorIn, die hierzulande ein anspruchsvolles Buch veröffentlichen will, müsste gleichzeitig Groschenromane schreiben, wenn er oder sie vom Schreiben existieren will – das gilt ebenfalls für ÜbersetzerInnen. Und das liegt nicht an irgendwelchen Staatspreisen, sondern an der „Freiheit“ des Marktes – also an unserem Wirtschaftssystem.

Der DJLP ist – zum Glück! - kein Preis für die Förderung von AutorInnen, sondern ein Preis, der auf herausragende (Welt)Literatur für Kinder und Jugendliche aufmerksam machen soll – bei der oben beschriebenen Situation des Kinder- und Jugendbuchmarktes eine außerordentlich wichtige Aufgabe. Dass die Jury mitunter Entscheidungen trifft, mit denen viele nicht einverstanden sind, liegt in der Natur der Sache – neben allgemein gültigen gibt es auch persönliche, zeitgeistabhängige, politische, eben jeweils juryspezifische Kriterien für die Bewertung von Literatur. Dass aber übersetzte AutorInnen eine größere Chance haben, den Preis zu bekommen, ist eine Fehleinschätzung oder auch eine Unterstellung – als wären die Jurymitglieder dermaßen vom überschwemmten Markt beeinflusst, dass sie die original deutschsprachigen Titel nicht zur Kenntnis nähmen. Zur Erinnerung: In die Auswahl kommen alle Titel, die von außen eingereicht werden (pro Jahr ca. 5-600). Wenn die eingereichten original deutschen Titel nicht nominiert werden, keinen Preis bekommen, dann heißt das zunächst nichts weiter, als dass sie nicht den Qualitätsvorstellungen der Jury-Mitglieder entsprechen.

Die Unterzeichnenden der Initiative weisen alle Vorwürfe zurück, bei ihrem Anliegen handelte es sich darum, sich unliebsame Konkurrenz vom Hals zu schaffen, um alleine an die Futtertröge eines von deutschen Steuergeldern finanzierten deutschen Staatspreises zu kommen. Sie wollen um Himmelswillen keine Konkurrenz zwischen übersetzter und nicht übersetzter Literatur heraufbeschwören, wollen aber sicher wissen, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland unbedingt vermehrt auf Deutsch geschriebene Bücher bräuchten
– mit teilweise haarsträubenden Begründungen.

Zu behaupten, sechzig Jahre nach Stiftung des DJLP sei die damals sicher notwendig gewesene Öffnung anderen Kulturen gegenüber nicht mehr nötig, weil längst andere Verhältnisse herrschten, geht vollkommen an der Realität vorbei und zeugt von einem erschreckend ahistorischen Denken. Was bedeutet zum Beispiel die Bemerkung: „Vor dem Krieg war die Jugendliteratur stark ideologisch geprägt“ – vor welchem Krieg? Ist damit die Weimarer Republik gemeint oder die Nazi-Zeit und die Kaiserzeit vor dem 1. Weltkrieg?
Oder die Zeit vor dem Vietnamkrieg? Und wie war es in jenem Krieg? Und was hat sich seit 1956 so grundlegend geändert, dass ein Blick nach außen, dass Völkerverständigung nicht mehr nötig sein sollten? Gibt es in Deutschland keinen Rassismus, keinen Anti-Semitismus, keine Nationalismen mehr?

Die zitierte Multikulturalität mag sich ja vor manchen Haustüren in Deutschland abspielen, in der original deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur findet sie jedoch höchst selten statt. Wenn überhaupt MigrantInnen vorkommen, haben sie entweder Probleme oder sie sind ein Problem. Nicht-deutsche Namen oder Begriffe werden oft falsch geschrieben, sozusagen eingedeutscht. Und was bitte schön ist die „hiesige“ Realität, die Kinder zur Bewältigung ihres Alltags in der Kinderliteratur finden sollen? Die in der hiesigen Kinderliteratur dargestellte ist für manche Kinder, die hier leben, mitunter genauso fremd wie die Realität in anderen Ländern – die Kinder- und Jugendliteratur spiegelt nur einen bestimmten Teil unserer Gesellschaft, ist also auch auf eine bestimmte Weise beschränkt.
Andererseits gibt es die Erfahrung, dass Reflexionen über das Eigene gerade durch die Auseinandersetzung mit dem Anderen, Unbekannten gefördert werden. Wenn die Behauptung stimmte, ein Text habe nur in seiner Muttersprache die ursprüngliche Dichte und Authentizität, gäbe es keine Literatur, die Menschen auf der ganzen Welt gleichermaßen berührte. Übersetzung und Original sind nicht zwei unterschiedliche literarische Formen,
sondern ein und dasselbe.

Als wichtiges Argument für die Vergabe des Preises ausschließlich an original deutschsprachige AutorInnen (mit Ausnahme eines extra Preises für Übersetzungen) wird die Literaturvermittlung angeführt, die in Deutschland besonders gut die hier lebenden AutorInnen übernehmen könnten. Mal abgesehen davon, dass nur sehr wenige Kinder und Jugendliche in den Genuss von Lesungen kommen, weil es einfach zu wenig öffentliche
Gelder für solche Veranstaltungen gibt, können auch ÜbersetzerInnen als AutorInnen ihrer Übersetzungen, LehrerInnen, BibliothekarInnen, Eltern, BuchhändlerInnen ganz wunderbar Literatur vermitteln.

Ein weiteres Argument: Kindern soll durch original deutschsprachige Literatur die Besinnung auf die eigene kulturelle Identität vermittelt werden. Was ist denn das? Wie definiert sich denn eine kulturelle Identität deutschsprachiger Menschen? Und droht die unterzugehen, weil Kinder nicht genügend Texte bekommen, die etwas vermitteln, von dem niemand weiß, was es ist?

Und ein Letztes: Wenn zur deutschsprachigen Literatur übersetzte Texte aus vielen Ländern dieser Erde gehören, dann zeigt das im Ausland doch vor allem eins: dass es ein weltoffenes Deutschland gibt."