Kommentar zum (vorläufigen) Ende der gedruckten Enzyklopädie

Sieg des mobilen Wissens

12. Juni 2013
von Börsenblatt
Mit dem Aus für Wissenmedia und das Direktvertriebshaus InmediaOne wird auch das letzte Geschäftsmodell für gedruckte Enzyklopädien zu Grabe getragen. Mobiles Wissen auf offenen Netzplattformen hat sich als Informationsquelle durchgesetzt. Ein Kommentar von Michael Roesler-Graichen.

Die Marke Brockhaus geht zwar nicht unter, aber nach der Entscheidung des Bertelsmann-Konzerns in Gütersloh ist nicht zu erkennen, welcher Verlag noch bereit sein sollte, eine gedruckte Enzyklopädie zu produzieren und zu vertreiben. Weder der Verkauf über den Buchhandel noch das Haustürgeschäft noch der Online-Direktvertrieb scheinen eine ausreichende wirtschaftliche Grundlage und damit eine kalkulatorische Voraussetzung für eine Weiterentwicklung der Substanzen zu geben. Damit setzt die 21. Auflage der "Brockhaus Enzyklopädie" aus heutiger Sicht den Schlusspunkt einer Lexikontradition. Und teilt das Schicksal der Encyclopedia Britannica, die nach jahrelangem Hin und Her zwischen Online- und Printstrategie im März 2012 nach 244 Jahren endgültig als gedrucktes Nachschlagewerk eingestellt wurde, und seither nur noch digital verfügbar ist. Auch die Brockhaus-Kunden haben noch bis 2020 die Möglichkeit, die (bezahlte) digitale Version in aktualisierter Form zu nutzen.

Längst haben sich im (mobilen) Internet andere Nutzungsgewohnheiten durchgesetzt: Wenn heute beispielsweise im Familienkreis darüber diskutiert wird, an welchem Tag und in welchem Venediger Hotel Richard Wagner gestorben ist, dann wird auch in Familien mit Bildungshintergrund kaum noch ein gedrucktes Lexikon hinzugezogen. Stattdessen wird die mobile Version von Wikipedia aufgerufen und bei Zweifeln mit einer zweiten oder dritten Web-Quelle abgeglichen. Zudem steht dieses allgemeine Wissen kostenlos zur Verfügung.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch der Vertriebsdruck, den die rund 300 Handelsvertreter von InmediaOne bei ihren Kunden aufbauten, wirkungslos bleiben würde:

  • Erstens schrumpfte die Gruppe der meist älteren Bestandskunden tendenziell, und ihr "Versorgungsstatus" hatte ohnehin einen denkbar hohen Sättigungsgrad erreicht.
  • Zweitens wurde es aufgrund veränderter Nutzungsgewohnheiten und wegen datenschutzrechtlicher Verschärfungen immer schwieriger, Neukunden zu gewinnen. Die Zielgruppe der Neukunden hätte zudem kaum die Bereitschaft gehabt, sich mit mehrbändigen Großwerken einzudecken.

Letztlich kann kein Vertriebsmodell den fundamentalen Trend zu offen zugänglichem, frei verfügbarem Wissen im Netz stoppen. Hier liegt das große Problem für alle Verlage, die allgemein nachschlagbares Wissen noch in bearbeiteter, veredelter Form verkaufen wollen.

Die Entscheidung des Gütersloher Konzerns, verkündet durch den CEO für Clubgeschäft und Direktmarketing, Fernando Carro, macht noch einmal tragisch bewusst, welche Chance 2008 vertan wurde, als die Aufsichtsgremien des Bibliographischen Instituts beschlossen, die mit großem Ehrgeiz und Aufwand entwickelte, für die Nutzer kostenlose Plattform Brockhaus Enzyklopädie Online abzublasen. Der Prototyp der Online-Enzyklopädie war von einer Qualität, die Wikipedia durchaus das Fürchten hätte lehren können. Aber die Furcht vor dem Schritt ins Netz (auf der Basis eines werbefinanzierten Geschäftsmodells) war größer als die Sorge vor einem schleichenden Untergang der Printmarke.

Wie es mit der Marke Brockhaus weitergeht, weiß man auch in Gütersloh noch nicht. Für Teilbereiche des Brockhaus Portfolios, etwa die Lernhilfen unter der Submarke Brockhaus Scolaris, wird es vielleicht eine Zukunft geben. Den Vertrieb dieses Segments hatte Wissenmedia bereits vor geraumer Zeit an die Klett Vertriebsgesellschaft (KVG) gegeben. Es könnte aber sein, dass Brockhaus in einem ganz anderen Kontext (mit hoher Wahrscheinlichkeit aber auch als mobile Applikation) wiederkehren könnte. Das wäre dann die Wiederkehr von Brockhaus in einer Art Posthistoire.