Zukunftskonferenz 2013

"Wenn Tante Emma auf Onkel Amazon trifft..."

20. Juli 2015
von Börsenblatt
Carsten Linz ist Experte für Innovation und unternehmerische Führung – und Gastredner bei der Zukunftskonferenz des Börsenvereins. Im Interview entwirft er eine Prognose für den Markt von morgen und blickt auf Hybridmodelle , die das Beste aus analoger und digitaler Welt verbinden.

Sie sind Business Development Officer bei einem Softwareunternehmen, unterstützen Startups als Business Angel, unterrichten an Business Schools und Universitäten. Was raten Sie den Unternehmern in der Buchbranche, wenn es um ihre Zukunft geht?
Das ist eine spannende Frage, weil ja die gesamte Medienbranche einen enormen Strukturbruch erlebt. Der Verkauf der "Washington Post" an Amazon-Chef Jeff Bezos hat hier große Symbolkraft. Niemand weiß genau, was Bezos mit der Zeitung vorhat. Aber man kann davon ausgehen, dass ein Digital-CEO mit langem Innovationsatem das Gewicht vom historischen Produktfokus zu den aktuellen Kundenbedürfnissen der Generation Y verlagern wird. Bezos dürfte auch den Mut haben, dafür Teile des Kerngeschäfts zu kannibalisieren. Dass weiterhin ein analoges Produkt, wie eine Zeitung oder ein Buch, hergestellt und über den Handel an den Kunden verkauft wird – von dieser traditionellen Wertschöpfungskette werden wir uns in der Breite verabschieden müssen.

Wie wird aus diesem Abschied ein Neuanfang? Braucht die Branche mehr Mut, mehr Innovationsgeist?
Die Buchbranche ist ohne Frage stetig innovativ. Sie steht aber derzeit an einem Strukturbruch, an dem andere Branchen auch schon waren. Nehmen Sie die Musik- oder die Fotoindustrie: Dort ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Die Herausforderung für Führungskräfte ist, dass das operative Tagesgeschäft den Großteil ihrer Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt und für zukunftssichernde Innovation oft keine Zeit bleibt. Ich glaube in der Tat, dass ein Schlüssel für die Zukunft darin liegt, Dinge neu und ganz anders zu denken, Chancen mutig zu nutzen. Ein Beispiel aus der Autoindustrie: Hersteller Tesla hat die grundlegende Frage, wofür ein Elektroauto gut ist, einfach radikal anders beantwortet, aus dem ökologischen Rechtfertigungsdruck gelöst und stattdessen einen Sportwagen mit Spaßfaktor gebaut. Ziemlich erfolgreich und mit dem Mut, ein neues Paradigma für neue Kundengruppen durchzusetzen.

Knowhow gehört allerdings auch dazu…
Ja, unbedingt! Nicht umsonst suchen die großen Autohersteller im Moment händeringend Elektronikspezialisten. Für Unternehmen ist es wichtiger denn je, neue Entwicklungen frühzeitig zu erkennen, damit sie die entsprechende Kompetenzbasis im Haus aufbauen und sinnvoll mit ihren traditionellen Stärken verknüpfen können. Nur so können neue starke Kombinationen daraus entstehen. Das gilt für die Buchbranche genauso.

Die Zukunft ist technologiegetrieben, nicht nur beim Elektroauto. Welche Rolle spielt der technologische Wandel bei der Transformation der Buchbranche?
Zweifellos eine große, eine katalytische. Dennoch ist Technologie nie Selbstzweck, sondern braucht immer eine Übersetzung in konkreten Kundennutzen. Ich möchte exemplarisch drei Trends herausgreifen:

  • Mobile Endgeräte werden zu Einkaufsassistenten, Smartphone-Apps sind nahe dran am Kunden, generieren individuelle Tipps, liefern Rabattcoupons und Veranstaltungshinweise, erinnern im Laden an Produkte, die man online angesehen, aber dann doch nicht gekauft hat und können so die Loyalität mit einem bestimmten Anbieter stärken.
  • Echtzeit-Analysen und neue Anwendungsfälle werden durch In-Memory-Technologie ermöglicht, das heißt man kann ausgehend vom Kunden am Regal die gesamte Liefer- und Transportkette optimieren oder bei Produkteinführungen schneller den tatsächlichen Wiederkaufserfolg ermitteln.
  • Crowdfunding und kollaborative Plattformen gewinnen bei Finanzierung und Produktion von verlegerischen Projekten an Bedeutung. Der britische Verlag Unbound lässt schon heute sein komplettes Programm schwarmfinanzieren. Die Plattform Kickstarter hat im vergangenen Jahr ca. 15 Millionen US-Dollar für Buchprojekte eingeworben.

Wie sinnvoll ist es überhaupt, am Konferenztisch weit nach vorn zu schauen, wenn sich Technologien und Märkte so rasant verändern?
Ob man nun, wie bei der Zukunftskonferenz des Börsenvereins, das Jahr 2020 oder das Jahr 2040 in den Blick nimmt, ist letztlich ganz egal. Der Zeithorizont muss nur weit genug sein, damit das Denken herausgefordert wird und man nicht einfach den Status Quo inkrementell fortschreibt. Die Trends und Brüche sieht man schon heute. Daraus gilt es nun, Strategien abzuleiten und gewissermaßen strategische Wetten auf die Zukunft abzuschließen.

Werfen Sie für uns einen Blick in die Glaskugel: Wie sieht der Buchhandel 2020 aus? Sehen Sie Chancen für Verlage und Händler?
Unbedingt! Mutiges unternehmerisches Handeln vorausgesetzt sehe ich durchaus große Chancen.

Und wo?
Beginnen wir auf Seite der Produzenten. Unternehmen sind gut beraten, sich ab und zu die Grundsatzfrage zu stellen, wofür sie eigentlich stehen. Medienunternehmen sind Experten intellektueller Wertschöpfung. Sie können in der überbordenden Informationsflut Muster und Strukturen aufzeigen, ob in Romanen oder Reportagen. Dass die "Zeit" als Wochenzeitung gerade heute, wenn Nachrichten sekundenschnell via Twitter verbreitet werden, so erfolgreich ist, hat einen guten Grund. Sie zeigt die großen Muster der Woche auf, selektiert das Relevante. Ein riesiger Mehrwert, den Contentproduzenten heute schaffen können. Orientierung und Orchestrierung – das sind aus meiner Sicht Schlüsselbegriffe. Orchestrierung heißt: Alle Informationskanäle bespielen und für den Leser daraus online und offline das zusammenstellen, was er persönlich braucht, was für ihn relevant ist. Wer dann noch eine starke Marke hat, die für Wahrheit, Exaktheit, Glaubwürdigkeit steht, ist gut gerüstet.

Gelten diese Chancen auch für den Handel?
Ja, der stationäre Handel hat durchaus große Chancen. Allerdings: Die Rolle als Vertriebskanal war gestern, die Schaffung einer konsistenten und nahtlosen Markenerfahrung im Rahmen des gesamten Kundenengagements steht heute im Mittelpunkt. Dabei ist man gut beraten, die traditionellen Handelsstärken voll auszuspielen, also die Marke menschlich und (be-)greifbar zu machen durch einen individuellen und vertrauenswürdigen Dialog und Service vor Ort.

Welche Rolle spielt dabei das Produkt selbst?
Es geht heute nicht mehr primär um produktzentrierte Geschäftsmodelle, sondern um einen Wettbewerb der Plattformgeschäftsmodelle, bei denen eine längerfristige Geschäftsbeziehung mit demselben Anbieter einen Vorteil für den Kunden hat. Man spricht auch von "Stickiness", weil das Unternehmen das bisherige Einkaufverhalten über alle Kanäle kennt und so dem Kunden personalisierte Informationen und Angebote zum Zeitpunkt der Kaufabsicht machen kann – das verbindet. Es geht nicht um online oder offline, um digital oder analog, sondern um die nahtlose Verbindung von beidem. Das perfekte Zusammenspiel aus einem physischen Ort der Markenerfahrung und digitalen Erfahrungen, die ein Kunde macht, entscheidet künftig über den Wettbewerbsvorsprung. Mein Vortrag bei der Zukunftskonferenz trägt nicht umsonst den Untertitel: „Wenn Tante Emma auf Onkel Amazon trifft“.

Was heißt das ganz konkret für den Einzelhandel?
Er muss die Vorteile der Online-Welt in den stationären Handel holen – und umgekehrt. Kunden wollen im Laden nicht mehr anonym einkaufen. Das Smartphone trägt Bewertungs- und Empfehlungssysteme, wie wir sie aus dem Internet kennen, auch in den Einzelhandel und wird – wie bereits erwähnt – zum digitalen Einkaufsassistenten. Beispiel: Es hilft bei der Suche nach dem besten Geschäft, das auch Freunde empfehlen. Die Verfügbarkeit von Produkten ist online abrufbar, damit sich der Weg zum stationären Handel auch immer lohnt. Wer dann eintritt, eine Kundenkarte besitzt oder anderweitig registriert ist, kann sofort mit ganz individuellen Empfehlungen versorgt werden, die sich aus der eigenen Kaufhistorie und persönlichen Daten wie Geburtstagen ergeben.

Tante Emma kann das auch – nur aus dem Gedächtnis und ihrer Kundenkenntnis heraus…
Jein. Denn Tante Emma müsste dafür auch wissen, was der Kunde online gekauft hat. Und genau darum geht es ja: Beide Welten zusammen zu führen und den Kunden auf der eigenen Plattform zu halten, analog wie digital. Empfehlungen vor Ort aufs Smartphone zu schicken, also sozusagen die Tante-Emma-Beratung über die Smartphone-App zu skalieren, ist im Buchhandel sicher eher ein Modell für Filialisten. Aber letztlich muss der kleine Buchhändler an der Ecke dasselbe leisten. Denn viele Kunden denken heute digital. Und dort muss man sie abholen.

Wo kaufen Sie selbst Ihre Bücher?
Oh, das ist ganz unterschiedlich. Amerikanische Fachbücher kaufe ich online direkt in den USA, wissenschaftliche Artikel lade ich mir aufs iPad, über Apps wie Flipboard lasse ich mir täglich meine persönlichen Carsten-Linz-Nachrichten zusammenstellen. Aber meine Reiseführer für den Urlaub, die kaufe ich nach wie vor beim Buchhändler und gedruckt. Abstand vom digitalen Büro, das ist für mich auch eine Form von Luxus.

Glauben Sie, dass die "Buy-local"-Bewegung das Einkaufsverhalten der Kunden grundlegend verändern kann?
Buy local ist eine interessante Idee. Es geht um lokale Verantwortung, um lebendige Innenstädte und damit letztlich um soziales Unternehmertum, also die Erkenntnis, dass Profit zu erwirtschaften, um damit Gutes zu tun, ein wirkungsvolles Mittel sein kann. Aber wenn der Buy-local-Gedanke erfolgreich sein soll, dann darf man nicht die Geschichte des inhabergeführten Einzelhandels einfach weiterschreiben. Vielmehr geht es darum, sich die dargestellten hybriden Mechanismen zu Eigen zu machen, also den Kunden online "abzugreifen", ihm zu zeigen, dass genau das vorrätig ist, was er sucht, ihm das Erlebnis aufzuzeigen, das ihn vor Ort erwartet wird, um ihn dann – auf der letzten Meile – natürlich so individuell und ehrlich zu beraten, dass er zu einem loyalen Kunden und vielleicht sogar zum Mitglied der lokalen Community wird.

Kennen Sie andere Branchen, wo sich Händler und Produzenten an einen Tisch setzen, um zwei Tage lang über ihre Zukunft nachzudenken?
Es gibt auch in anderen Branchen Zukunftskonferenzen – aber bei der Zukunftskonferenz des Börsenvereins sitzt der Digital-Native-Azubi neben dem grauhaarigen Vorstandsprecher und dem branchenfremden Innovations-Querdenker. Wenn die nicht gemeinsam Visionen für eine erfolgreiche Zukunft entwickeln können, wer dann? Die Anzahl der Ideen wird größer – und damit auch die Chance, die Punkte auf der Landkarte neu zu verbinden.

Zur Person
Carsten Linz ist Business Development Officer bei SAP und Business Angel für Startups in Europa und den USA. Als Lehrbeauftragter für Entrepreneurship und Innovationsmanagement unterrichtet er zudem an der Universität St. Gallen, dem Karlsruhe Institute of Technology und der Mannheim Business School. Bei der zweiten Zukunftskonferenz des Börsenvereins sorgt er als Referent für den Blick von außen (12. und 13. September, Konferenzthema: "Content und Kanäle: Welchen Weg zum Kunden nimmt das Buch? Analysen und Prognosen für den Buchmarkt 2020", mehr unter www.zukunftskonferenz.org).