Essay von Markus Bundi

Ich habe mir für 19,99 Wünsche gekauft

6. Juli 2015
von Börsenblatt
Er stellt die Frage nach dem Wert von Literatur im angehenden 21. Jahrhundert: Der Novellist, Herausgeber und Lyriker Markus Bundi sagt: "Der Konsumismus hat sich breit gemacht." Eine Wutrede.

„Das Geschriebene ist nur noch eine Begleiterscheinung, eine Nebensache." – Dieser Satz findet sich gegen Ende von Joachim Zelters soeben erschienener „Literaturnovelle". So die Gattungsbezeichnung, die der Schriftsteller für sein jüngstes Werk „Einen Blick werfen" gewählt hat. – Eine Novelle über Literatur? Von einem „Requiem auf die Literatur" ist in diesem Text ebenfalls die Rede. Ein Abschied also, ein Abgesang.

Das erinnert zunächst an ein Wehklagen, in das im Niedergang der Literaturkritik Ende des vergangenen Jahrhunderts eingestimmt wurde. Man hätte damals leicht den Eindruck gewinnen können, dass der Schwund an Rezensionen, das zunehmende Fehlen einer substanziellen Auseinandersetzung mit Literatur allseits gebrandmarkt würde. Dennoch hat sich die Marginalisierung dieses einst höchsten Guts in den Feuilletons fortgesetzt. Und sie haben gekämpft im deutschsprachigen Raum, die Verlage, Autorinnen, Kritiker, Buchhändlerinnen und die entsprechenden Verbände, für den Erhalt der Buchpreisbindung, und – abgesehen von der Schweiz – mit Erfolg: Denn Bücher sind weder Zahnbürsten noch Unterhosen, sondern ein Kulturgut, schützenswert also, in Bedeutung und Tragweite mehr als ein Produkt und dessen Verbrauch. Einer Desavouierung ihrer selbst kommt die Preispolitik gleich, die einige Verlage inzwischen betreiben: 19,99 Euro kostet der jüngste Roman von Judith Kuckart. „Wünsche" lautet sein Titel. Eine schwierige, eine subversive Kombination.

Selim Hacopian, Zelters Protagonist, ist nicht in der Lage, auch nur einen deutschen Satz korrekt zu formulieren. Dennoch hat er sich in den Kopf gesetzt, Schriftsteller zu sein, so bald als möglich erste Texte zu publizieren. Mit diesem Begehren wendet er sich an einen andern Schriftsteller, dieser möge doch „einen Blick werfen" … wogegen sich der gestandene Autor zunächst entschieden zur Wehr setzt, irgendwann jedoch der Hartnäckigkeit wiewohl auch der Herzlichkeit Hacopians erliegt. Die Zusammenarbeit der beiden trägt eines Tages Früchte, bringt dem Immigranten einen Vertrag mit einem renommierten Verlagshaus ein, und dies nicht zuletzt oder gar ausschließlich seines Lebenslaufs wegen, an dem die beiden mehrfach gefeilt haben: Napoleondarsteller in Ägypten, Abt eines koptischen Klosters, Requisitenhändler und Kammerjäger.

Die Verpackung macht den Inhalt. Eine Binsenwahrheit des Marktes, die spätestens seit dem „Fräuleinwunder" auch für die Belletristik gilt. Literaturkritik heute? – Die Autoritäten sind verlorengegangen. Und sie sind nicht nur sämtlichen Sparten der Kunst abhanden gekommen. Der smarte Mensch will sich nichts mehr sagen lassen, allfällige Wissenslücken stopft Wikipedia. Zwar werden wir in einem noch nie gekannten Ausmaß überwacht und manipuliert, doch die Mächte dahinter sind unsichtbar geworden: Das ist die Konsumgesellschaft, die wir mit ausdauernder Passivität weiter befestigen. Auf einen Sammler und Mehrer von Wissen (auctor oder auctoritas) können wir getrost verzichten. Jene mahnenden Stimmen, die vor wenigen Jahren noch das um sich greifende Halbwissen anprangerten, sind kleinlaut geworden; man prostet sich heute freudig zu, wenn wenigstens ein Achtel noch zur Verfügung steht.

An die Stelle des Bildungsbürgertums, das sich einen Erziehungsauftrag auf die Fahnen geschrieben hatte, ist der Konsumismus getreten. In einigen Köpfen mischen sich allerdings alte Wertvorstellungen mit Wehmut: Es geht doch nicht an, dass ein Schriftsteller erfolgreich ist mit einem miserablen Text! – Dabei weiß jeder, dass Buchhandlungen Bestellungen von Neuerscheinungen immer im Voraus tätigen, bevor also der entsprechende Titel überhaupt erschienen ist. Was uns als neue Literatur angeboten wird, ist folglich ungelesen (Ausnahmen mögen auch diese Regel bestätigen). Böse Zungen gehen so weit zu behaupten, dass auch der Großteil vom dem, was Jahr für Jahr auf die Longlist des Deutschen Buchpreises gesetzt werde, zum Zeitpunkt der Nominationen von der Jury ungelesen sei.

Welche Auswahlkriterien gelten für Ungelesenes? Die Antwort ist leicht: Es ist die Potenz des anbietenden Verlags, seine Marktposition. Unter dem Titel „Der Wille zum Mittelmaß" schrieb Matthias Politycki in einem luziden „ZEIT"-Artikel Ende 2011: „Tatsächlich ist, was auch immer mit viel Bohei an uns vorbeirauscht, meist auf solch beschämende Weise abgeschmackt, austauschbar, banal geworden, nicht unbedingt in jedem Fall: schlecht, aber eben: mittelmäßig, dass wir uns ernsthaft fragen müssen, mit welchen kulturellen Stimulanzen wir den Rest unsrer Lebenszeit eigentlich noch frisch bestücken können." Damit sind wir mitten in Nietzsches Herdentiermoral versetzt und eine weitere Schwierigkeit ist zur Sprache gebracht: Wie lässt sich das Gute im Einheitsbrei noch finden? Zelters Ich-Erzähler hat resigniert, er bezeichnet die gegenwärtige Literaturepoche als „Flaute und Rückzug", Erfolg oder Misserfolg eines Autors hängen an „Wahllosigkeit und Zufall".

Vielleicht liegen die Gründe aber auch in der Tatsache, dass der Magen der Belletristik längst kollabiert ist, eine nützliche Unterscheidung von U- und E-Literatur bislang nicht stattgefunden hat. Es mutet absurd an, wenn ein Kritiker auf der Suche nach stilistischen Feinheiten das jüngste Produkt von Paulo Coelho verreißt. Und genau so verfehlt ist der Kurzschluss, wonach Platz 1 der Bestsellerliste das Maß literarischer sprich künstlerischer Weihen sein soll. Das eine hat mit dem andern nichts zu tun. Niemand verfällt auf die Idee, einen begnadeten Jazzpianisten mit Miley Cyrus in denselben Topf werfen. Ohne Frage hat auch die Literatur ihre Klassik, ihren Jazz und Blues, ihren Pop und auch viel Trash. Was hindert uns daran, zu unterscheiden? Pferdefleisch bleibt Pferdefleisch, eine korrekte Deklaration ist aus guten Gründen Gesetz – und sie sollte auch für Belletristikverlage Pflicht sein.

Die Schwierigkeit: So manch großer Verlag, der vor wenigen Jahren noch für große Literatur stand, ist zwar noch immer groß (gar noch größer geworden), doch scheint sich Literarisches vermehrt in kleineren Verlagen zu finden. Gesetzt den Fall, es ist was dran an der Weisheit, dass große Kunst ein gerüttelt Maß an Anachronismen bedingt, dann empfiehlt sich ein Perspektivenwechsel – weg von den in Buchhandlungen gestapelten Titeln, die lediglich vorgeben, große Literatur zu sein, hin zu den versteckten Büchern, jenen, die womöglich den Weg in den Laden gar nicht gefunden haben. Nur Eigeninteresse schützt vor Vereinnahmung.

Für den unwahrscheinlichen Fall aber, dass sich der Buchmarkt doch noch darauf besinnt, wieder auf Inhalte beziehungsweise Transparenz zu setzen, mag eine alte Fußballerweisheit gute Dienste leisten: Nicht nur die Mitte bedienen, sondern ebenso mit den Außen spielen. Dann wären auch jene wieder am Ball, für die das Geschriebene die Hauptsache ist. Und, übrigens: Das sind dann Leute, die gern auch 25 statt der 19,99 Euro für ein Buch ihrer Kragenweite bezahlen.

Markus Bundi (Jahrgang 1968) lebt in der Schweiz. Zuletzt erschienen ist der Gedichtband: Kleine Rolle Rückwärts (Edition Isele) und die Novelle Emilies Schweigen (Klöpfer & Meyer Verlag).